Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2022

Rozalie Hirs: artemis

Stand

Werkkommentar von Rozalie Hirs

Artemis ist der Götterarchetyp, der in der Natur lebt und für Genderfluidität steht, denn sie ist eine weibliche Gottheit mit männlichen Eigenschaften wie Freiheitsliebe, Mut, Unabhängigkeit und Autonomie. Die Sängerin Keren Motseri verkörpert Artemis, während das Ensemble Ascolta mit E-Gitarre, zwei Percussionisten und Klavier eine an eine Band erinnernde Eigenwilligkeit hervorruft; dazu kommen melodische und mikrotonale Einflüsse von Trompete, Posaune und Cello.

artemis (2022) gründet sich auf die sehr persönliche frequenzbasierte (d. h. spektrale) Kompositionstechnik, die Hirs in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat. Bei der Ausarbeitung des musikalischen Inhalts der Partitur sind Einflüsse aus dem elektronischen Bereich zu erkennen durch Berechnung und Entwicklung von Frequenzen und Zeitspannen. Auf diese Weise entwickelte Hirs das musikalische Material sowohl für die Übertragung in die Partitur als auch für spezielle elektronische Klangsynthese. Zu den musikalischen Materialien gehören unter anderem Frequenzmodulation und Ringmodulation. Letztere ist ein Beispiel für ein psychoakustisches Phänomen (d. h. "Summen- und Differenztöne"), das auftritt, wenn wir ein Intervall oder Intervalle von gleichzeitig erklingenden Tönen wahrnehmen. Hirs verwendete unter anderem die Software OpenMusic für die Entwicklung des Materials und dessen Übertragung in die Partitur sowie SuperCollider für die Klangsynthese.

Die Texte für artemis wählte die Komponistin und Lyrikerin aus ihrem Gedichtband oneindige zin (unendlicher Sinn; Amsterdam: Singel Uitgeverijen|Uitgeverij Querido, 2021) aus, und zwar aus dem Zyklus magie van een mogelijk heden, den sie parallel auch in Englisch und Deutsch konzipiert hat als presence of a possible magic bzw. magie der möglichen gegenwart. Der Gedichtzyklus entstand während der Pandemie. Für artemis wählte Hirs acht Gedichte aus dem deutschen Zyklus [1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11].

Die Gedichte magie der möglichen gegenwart beginnen autobiographisch mit dem Kampf des Geborenwerdens. Danach geht es um das Leben und seine Möglichkeiten, Geschenke, Verluste und vielfältigen Gefühle. Die Vokallinien sind relativ einfach gehalten, vor allem im Vergleich zu früheren Vokalwerken von Hirs, und erinnern in ihrer scheinbaren Schlichtheit an ihr kürzlich entstandenes Werk hand in hand (2020), eine Auftragskomposition des Kulturkreises für Neue Musik Heilbronn. Die gesprochene Passage, die eine vollständig transkribierte Sprachmelodie der Dichterin-Komponistin beinhaltet, erinnert an ihren Lyrik- und Musikzyklus dreams of airs (2017/18), der vom Spectra Ensemble aus Belgien und der Athelas Sinfonietta aus Dänemark aufgeführt wurde.

Mit besonderem Dank an Stefan Wieczorek und Paul Vincent für ihre redaktionellen Kommentare zu sämtlichen deutschen bzw. englischen Gedichten, an Ira Wilhelm für ihre Kommentare zum zweiten Gedicht und an Christoph Hamann für seine Kommentare zum letzten Gedicht vor dessen Veröffentlichung in der Literaturzeitschrift die horen (Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Band 286, 67. Jahrgang 2022. Wallstein Verlag) als Hommage an die verstorbene Dichterin Barbara Köhler (1959-2021).

English

Artemis is the god archetype who lives in nature, and expresses genderfluidity, for she is a female god with masculine traits like love for freedom, courage, independence, and autonomy. The singer Keren Motseri embodies Artemis, while Ensemble Ascolta, with its electric guitar, two percussionists, and piano, invokes a band-like quirkiness, with melodic and microtonal influences of the trumpet, trombone, and cello.

artemis (2022) alludes to the highly personal frequency-based (i.e. spectral) compositional technique developed by Hirs over the past twenty years or so. There are influences from the electronic domain in the development of the musical content for the score through calculation and development of frequencies and durations. Thus, the musical materials were developed by Hirs both for translation to the score, as well as for custom electronic sound synthesis. The musical materials, among other things, include frequency modulation, and ring modulation. The latter is an example of a psycho-acoustic phenomenon (i.e. "sum and difference tones") present when we perceive an interval or intervals of simultaneously sounding tones. Among the softwares Hirs used are OpenMusic for the development of materials and translation to the score, and SuperCollider for the sound synthesis.

The poetry for artemis was selected by the composer from her poetry book oneindige zin (infinite sense; Amsterdam: Singel Uitgeverijen|Uitgeverij Querido, 2021), specifically from the cycle magie van een mogelijk heden, that the poet also devised in parallel versions in two other languages, English and German, as presence of a possible magic, and magie der möglichen gegenwart respectively. The poetry cycle was written during the pandemic. For artemis Hirs chose eight poems from the German cycle [1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11].

The poems magie der möglichen gegenwart start, autobiographically, with the struggle of being born. Then they deal with life and its possibilities, presents, losses, and a multitude of feelings. The vocal lines have been kept relatively simple, especially when compared to earlier vocal works by Hirs, yet in their seeming simplicity remind of her recent hand in hand (2020), commissioned by Kulturkreis für Neue Musik Heilbronn. The spoken passage, including a fully transcribed speech melody of the poet-composer, is reminiscent of her poetry and music cycle dreams of airs (2017/18), performed by the Spectra Ensemble, Belgium, and Athelas Sinfonietta, Denmark.

With special thanks to Stefan Wieczorek for his editorial comments on all poems, to Ira Wilhelm for her comments on [2], and to Christoph Hamann for his comments on [11] before its publication in the literary magazine die horen (Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Band 286, 67. Jahrgang 2022. Wallstein Verlag) as a tribute to the late poet Barbara Köhler (1959-2021). 

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Themen in diesem Beitrag
Rozalie Hirs, artemis für Sopran und Ensemble
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Autor/in
SWR