Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2022

Nikolaus Brass: heliotrop

Stand

Werkkommentar von Nikolaus Brass

Wintersonne,
schwerster Stein
so schwerer Stein.

Asche der Nacht –
Ein einziger Tag
Dass wir uns halten
einen einzigen Tag.

Der Mohnsamen
geht überall auf.

(Text: Nikolaus Brass)

Die Komposition heliotrop – Sequenzen für Bassklarinette und Vokalsextett entstand zwischen Januar und März 2022. Heliotropie ist eines der fundamentalen Bewegungsprinzipien der Natur, die Wendung zum Licht. Wie alles Natürliche Störungen und Behinderungen ausgesetzt. Wie alles Lebendige der Vernichtung anheimgegeben. Aber als natürliches Prinzip von Wachstum und Gestaltbildung so lange herrschend wie die Sonne unserer Galaxie. Also eigentlich vertrauenswürdig, wenn nicht als Gesetz, so doch zumindest als Analogie.

Der im Titel angebrachte Verweis auf die Sequenz – hier in ihrem liturgischen Verständnis – deutet auf den Aspekt des Lobpreises hin, vielleicht ein ähnliches Grundprinzip der Kunst, wie die Heliotropie ein Grundprinzip der Natur ist. Eine Sequenz ist eine reich gestaltete, wortlose Melodie im Anschluss an das Halleluja als Jubilus, also als lyrischer, hymnischer Gesang. Dieser Bezugsrahmen steht uns im 21. Jahrhundert "natürlich" nicht mehr ungebrochen zur Verfügung, in meinem Verständnis kann er aber durchaus als Grundierung einer künstlerischen Aussage herangezogen werden.

In diesen Bezugsrahmen trat der Text erst während der Komposition hinzu; in seiner Bedeutungsebene von mir zuerst verstanden als ein Reflex auf den 24. Februar 2022. Ich könnte auch sagen, der Text drang in die zunächst textlos konzipierte Musik ein als zusätzliche Stimme mit eigenem Recht. Manchmal wirkt er wie ein ausgesungenes Sprachbild, doch oft wird er nur verwendet als ein Mittel der "Orchestrierung", wird also verstanden eher als Unterstreichung oder Farbzugabe denn als eigenständige Schicht; manchmal wiederum verbirgt er sich auch nur ungehört, als Hinweis für die Interpret:innen auf ein inneres Bild.

Die spektral gefärbte Harmonik spielt für mich im ästhetischen Kontext von Natur und Artefakt "natürlich" eine Rolle – im wahrsten Sinne des Wortes. Das heißt, ich bereite der "Naturtönigkeit" einen ambivalenten Auftritt, da uns doch gerade die "verzogenen" Intervalle, gebildet aus den höheren ungeraden Naturtönen (siebter, elfter oder dreizehnter Naturton), eher als Artefakte denn als Abbild der Natur geläufig sind.

English


Winter sun,
heaviest stone
so heavy stone.

Ashes of the night –
A single day
That we hold
a single day.

The poppy seed
rises everywhere.

(Text: Nikolas Brass)

The composition heliotrop – Sequenzen für Bassklarinette und Vokalsextett was created between January and March 2022. Heliotropy is one of the fundamental principles of movement of nature, the turn to the light. Like everything natural, subject to disturbance and obstruction. Like all living things, subject to annihilation. But as a natural principle of growth and shaping as long prevailing as the sun of our galaxy. So it is actually trustworthy, if not as a law, at least as an analogy.

The reference in the title to the sequence – here in its liturgical meaning – indicates the aspect of praise, perhaps a similar basic principle of art, as heliotropy is a basic principle of nature. A sequence is a richly crafted, wordless melody following the Hallelujah as Jubilus, that is, as a lyrical, hymnal song. This frame of reference is “naturally” no longer available to us without questioning in the 21st century, but in my understanding it can certainly be used as a basis for an artistic statement.

The text entered this frame of reference only during the composition; in its level of meaning it was first understood by me as a reflex to February 24, 2022. I could also say that the text penetrated the music, which was initially conceived without text, as an additional voice with its own right. Sometimes it seems like a sung out linguistic image, but often it is used only as a means of "orchestration", is thus understood more as an underlining or color addition than as an independent layer; sometimes again it hides only unheard, as a hint for the performers to an inner image.

Spectrally colored harmonics play a role for me in the aesthetic context of nature and artifact "naturally"– in the truest sense of the word. That means, I prepare an ambivalent appearance for the "natural tonality", since especially the "distorted" intervals, formed from the higher odd natural tones (seventh, eleventh or thirteenth natural tone), are rather familiar to us as artifacts than as images of nature.

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Autor/in
SWR