"Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen."
Walter Benjamin [GS V, 1058]
Das Gute an Schlafstörungen ist (insbesondere als Mutter von zwei kleinen Kindern), dass man mehr Zeit zum Komponieren hat. Morgens um fünf – wenn andere noch träumen – ist meine liebste Arbeitszeit.
In dem Stück "Hoqueti" habe ich Traum-Aufzeichnungen und -Reflexionen von Walter Benjamin, zwei Träume aus den "Traumprotokollen" von Theodor W. Adorno sowie zwei Gedichte von Bertolt Brecht aus den "Buckower Elegien" vertont. Da ich diese (gewissermaßen wie einen "zerschnittenen" Gesang) mit Hilfe der Hoquetus-Technik kombiniere, werden beim Hören nur bedingt einzelne Sätze vollständig zu verstehen sein. In der Vorbereitung zu dieser Komposition habe ich mich intensiv u.a. mit Guillaume de Machaut auseinandergesetzt. Bei seinen Motetten hat mich insbesondere die klingende Freiheit und Kühnheit, die Vitalität seiner Hoqueti fasziniert, wiewohl diese durch strenge isorhythmische, isoperiodische Sätze gekennzeichnet sind. Die einzelnen Stimmen lässt Machaut dabei parallel etwa drei verschiedene und doch aufeinander bezogene Texte singen. So trägt auch in meinem Stück jeder Sänger seine "eigenen" Träume vor, die er letztlich mit niemandem teilen kann. Und das nicht nur als Zeichen für die Nacht, ist doch Vereinzelung etwas ureigen Menschliches; kompositorisch steht hierfür auch ein Konzept von Annäherungen und Entfremdungen, Lautkombinationen, manchmal Überschneidungen, Begegnungen von Worten oder aber Verzerrungen und Auslöschungen.
Das Phänomen des Träumens ist noch immer kaum erschlossen, schon allein deshalb, weil es objektiv nicht untersuchbar ist. Man weiß, dass es verschiedene Schlafphasen gibt, die im Lauf der Nacht aufeinander folgen und dass es in den Zeiten des sogenannten "REM-Schlafs" (des paradoxen oder desynchronisierten Schlafs) zu besonders intensiven Träumen kommt. Wie aber Träume entstehen – und was ihr Sinn ist – vermag bislang niemand letztgültig zu erklären. Wissenschaftliche Theorien fußen auf psychologischer Traumdeutung, die Träume als Verarbeitung der Erlebnisse des Tages oder auch als unterdrückte Wünsche auffasst. Andere Theorien gehen von der Hypothese aus, Träume seien sinnentleerte, lediglich zufällig entstehende Bilder, die auf von Neuronen im Gehirn produzierten Erregungsmustern basieren. Dass Träume wichtig, gar lebensnotwendig sind, bleibt bei allen Theorien meist unbestritten.
Formal liegt meiner Komposition ein sogenanntes "Hypnogramm" zugrunde – ein Diagramm nächtlicher Schlafphasen. Darüber hinaus tauchen musikalische Übertragungen verschiedener Schlafstörungen (darunter Myokloni, Zuckungen, Nachtschreck, Schlafwandeln, Halbwach-Schlaf) auf. Die Harmonik ist durch eine bestimmte Technik der Farbgebung Francisco Goyas beeinflusst: Die dunklen Hintergründe seiner Gemälde sind nicht nur schwarz, braun oder grau, sie vibrieren vielmehr und leuchten dabei. So ist auf einem unvollendeten Bild Goyas zu sehen, wie er ursprünglich in einer ersten Schicht Orange auftrug und erst darauf braune Ölfarbe in verschiedenen Schattierungen malte.
Die Sänger werden nicht nur durch die komplexe Hoquetus-Technik und die sich stetig abwechselnden musikalischen Phasen bzw. Zustände gefordert. Eine weitere Herausforderung entsteht zudem durch den Einsatz zusätzlicher Instrumente, die von ihnen zu spielen sind: die drei Frauenstimmen Schlagzeug, die drei Männerstimmen Kontrabass. Ich bin den Neuen Vocalsolisten Stuttgart sehr dankbar, dass sie sich darauf einlassen. Das Stück ist in der Spannung von strenger Planung und Spontaneität entstanden. Die Texte von Benjamin, Brecht und Adorno, die Phasen des Diagramms – und auch Machaut – waren mir beim Komponieren ein "Gegenüber". Die "Hoqueti" sind Walter Zimmermann gewidmet.
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- Sarah Nemtsov, Hoqueti für sechs Solo-Stimmen mit Zusatzinstrumenten
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