Ich habe schon immer gezeichnet. Weil ich so versuche, die Musik ein wenig zu vergessen. Auch wegen der Bewegung der Hand. Wenn ich Musik schreibe, bewege ich meine Hand auf extrem engem Raum. Ich schreibe winzig klein. Mit dem Lineal. Alle Zeichen werden mithilfe eines Lineals mit einem japanischen Stift geschrieben, dessen Spitze die Größe von einem Millimeter nicht überschreitet. Aber wenn ich zeichne, dann groß, mit einem Füller mit feiner Feder; die Bewegung der Hand ist leicht, ohne Spannung, sie misst nichts ab, sie gleitet. So ist eine Handschrift die Kehrseite einer anderen. Wenn ich zeichne, denke ich nicht wirklich, das heißt, ich höre nichts. Beim Schreiben von Musik geht ein (inneres) Hören dem Lesen und ebenso dem Schreiben voraus. Zeichnen bedeutet zunächst einmal sehen. Wenn ich zeichne, habe ich keine Herausforderung. Keine ästhetische (nur das nicht!) und nicht einmal eine moralische. Ich habe keine andere Absicht als das Zeichnen, ohne Lineal und ohne irgendetwas anderes ins Spiel zu bringen als das Spiel des Zeichnens. Ich habe hunderte, vielleicht tausende von Bildern gezeichnet. Ich verschenke sie, um jemandem eine Freude zu machen, zum Geburtstag oder einfach so, ich sage, das ist Musik für die Augen. Für die Augen, ja, weil ich mit Musik zeichne. Ich schreibe Noten, Pausen, musikalische Symbole; ich füge sie zusammen und nehme sie auseinander, ich nehme sie aus ihrem Kontext, ich verschiebe ihr Regelsystem, ich beachte keine der Vorschriften für die Musiknotation, ich verwende einfach nur deren Symbole; alles ist frei, das will nichts sagen, das klingt nicht, das ist einfach nur für die Augen da. Ich ziehe Linien, ich kritzele, ich kratze musikalische Symbole auf die Seite, die aber keinerlei Gewicht besitzen. Tatsächlich tut mir das vor allem gut. Manchmal ist es fast eine Revanche, die ich an der Musik nehme. Es macht mir einfach Freude. Im Lauf der Zeit ist das Zeichnen neben der Musik zu einer weiteren Beschäftigung geworden, so wie die Photographie. Ich versuche immer, nahe an der Musik zu sein, weil sie in mir so stark ist, dass sie mich oft verbrennt. Und das tut mir überall weh. Fotografieren und zeichnen ist dagegen eine Freude ohne Risiko. Wenn ich zeichne, wenn ich Fotografiere, dann denke ich wirklich an nichts, aber am Ende komme ich, trotz meiner Anstrengungen, anderswo zu sein, zur Musik zurück. Zum Beispiel nenne ich meine Zeichnungen manchmal meine Denkräume.
Beim Zeichnen solcher Dinge ist mir die Idee gekommen, dass darin eine nächste Dimension fehlt. Wenn ich Musik schreibe, zeichne ich auch (und das bleibt immer Zeichnen, auch wenn ich ein Lineal benutze und Regeln befolge), aber von weitem ist immer noch eine Dimension vorhanden, die des Klangs. Der Klang hat keine Dimension (jedenfalls möchte ich das so glauben), er vibriert und verbreitet sich im Raum wie Luft. Klang ist Luft. Musik ist Luft. Musik zu schreiben heißt die Vibrationen der Luft zu zeichnen und zu ordnen. Zum Zeichnen zurückzukehren ist jedes Mal eine kleine, sanfte Frustration, weil alles flach ist. Darum streben meine Zeichnungen in eine weitere Dimension. Es ist, als versuchte ich immer auf die Rückseite und die Vorderseite zu zeichnen, auf die Seiten, schräg. Etwas in mir sucht; etwas, das an die Art erinnert, wie Musik klingt und den Raum durchquert.
Für das Théâtre des Bouffes du Nord habe ich 2011 O Mensch! inszeniert, einen Zyklus für Bariton und Klavier, den ich nach Gedichten von Nietzsche geschrieben habe. Am Ende wollte ich ein Bild des Kosmos darstellen. Oder jedenfalls eine Art von kleinem, privatem Kosmos. Ich wollte das gerne unscharf haben, wenig präzise, eigenartig, ein ungewöhnliches Bild, das wie über der Bühne aufgehängt wirken sollte. Ich habe darum meinen treuen Mitarbeiter und Freund Thierry Coduys (der mir immer bei der Elektronik meiner Opern assistiert) gefragt, wie man eine kleine Milchstraße inszenieren könnte. Wir haben dann mehrere Lösungen mit aufgehängten Tüchern ausprobiert. Anfangs haben wir versucht, darauf Bilder von Sternen zu projizieren, aber das hat nicht funktioniert. Es war so naiv, dass es mich schnell geärgert hat. Es waren nur wenige Tage bis zur Premiere, und ich fand nichts, womit ich zufrieden gewesen wäre. Dann habe ich in einer einzigen Nacht sieben Zeichnungen gemacht, sie gescannt, dann haben wir sie in einen Computer eingegeben, der mit einem Videobeamer verbunden war. Auf der Bühne des Theaters haben wir drei Schleier gegeneinander versetzt aufgehängt und die Bilder auf diese Gespenster aus schwarzem Tuch projiziert. Das Ergebnis war fast magisch. Die Zeichnungen überlagerten einander transparent, ihre Schriftzüge verschmolzen zu einer Vielzahl von Zeichen, die ganz nach unserem Belieben erschienen oder verschwanden. Das System war so konzipiert, dass man mit dem Licht atmen konnte. Dieser Augenblick in der Inszenierung von O Mensch! war sehr kurz, wie ein rätselhaftes Geheimnis.
Später wollte ich etwas anderes in dieser Art machen, nur größer.
Mille Plateaux ist also eine akustische und visuelle Installation, die auf die Substanz aus diesem kurzen Augenblick der Inszenierung von O Mensch! zurückgreift, aber wir beide, Thierry und ich, haben ihn weiter entwickelt. Wenn ich mit Thierry arbeite, stelle ich ihm Fragen. Die kommen einfach so. Zum Beispiel frage ich ihn: "Könnte man eine Software erfinden, die in der Lage wäre, alle Elemente einer Zeichnung, die Punkte, die Linien, die Kurven und die Stärke des Strichs, zu steuern? Könnte der Computer alle diese Parameter interpretieren, sie analysieren und sie so deregulieren, dass alles, sogar der Ausgangspunkt der Handbewegung, die sie geschaffen hat, verschwinden würde?" Dann antwortet er mir: "Ich denke mal nach." Er sagt niemals ja und noch weniger nein, er sagt: "Ich denke mal nach." Wenn er wiederkommt, hat er alle Informatikprobleme gelöst, die sich mit meinen Fragen gestellt hatten, aber daraus entstehen neue, und so machen wir mit anderen Fragen weiter…
Ein andermal frage ich ihn: "Kann ein Strich vibrieren?" Oder: "Kann er anders skaliert werden?" Dann frage ich ihn: "Und wenn wir einen Raum fänden, der groß genug wäre, um alle diese Zeichnungen auf einer großen Menge von Schleiern übereinanderzulegen, indem wir die Pixelzahl der Video-Projektionen vervielfachen?" Er antwortet mir: "Das geht, drei oder vier verschiedene Quellen für die Projektionen könnten ausreichen." Und er erklärt mir, warum. Ich frage zurück: "Und wenn wir über das Material nachdenken, wenn wir andere Stoffe suchen würden?"
Also haben wir unglaubliche Stoffe gefunden, Stoffe, wie man sie nicht kennt, Stoffe, die einen Teil des Lichts durchlassen oder einen anderen Teil ausfiltern, Stoffe, die pixeln, Stoffe, die ein Gedächtnis haben, Wahnsinnsstoffe. Es sind seltsame Stoffe, sie bestehen aus Polymeren, aus Polyester, aus Polyamid mit Aluminium oder aus einem weichen, spiegelnden Material.
Und wir kommen weiter voran, machen Versuche, überlegen, staunen und haben viel Spaß dabei. Schon seit langem basteln wir nun eine Menge solcher Sachen, immer nur zu verqueren Fragestellungen. In meinen Opern mit Elektronik – zum Beispiel in Passion (2008), wo physiologische Empfänger von der Haut der Sänger den Klang ihrer Emotionen abnahmen, noch bevor sie sangen ¬– oder auch bei Installationen wie der im Grand Palais (2008) mitten in einem riesigen Werk von Richard Serra, wo eigentlich alles als unmöglich galt, oder auch beim Feuerwerk zur 150-Jahr-Feier der Stadt Deauville (2010), bei dem das Feuerwerk wie bei einem Vogelflug über die Musik bestimmte.
Als Armin Köhler mir vorgeschlagen hat, eine Installation zu konzipieren, habe ich sofort daran gedacht, "das" zu machen. In Donaueschingen haben wir einen Spielplatz ausgesucht, auf dem sich alles abspielen wird. Ich habe Dutzende von Seiten gezeichnet. Die Zeichnungen sind alle im Computer, und der Computer kann sie lesen und mit ihnen spielen, denn wir haben ihm beigebracht, die Formen zu analysieren, damit er Striche und Punkte daraus ziehen und neue Unter-Zeichnungen generieren kann. Es gibt weder irgendeinen Video-Effekt noch werden Zeichnungen reproduziert, es ist das Computersystem selbst, das die Formen erzeugt.
Die Musik ist nach denselben Verfahren organisiert wie die Bilder und entsteht ausschließlich aus Regen und Wind, denn die Klänge der Natur sind die ältesten, an die ich mich erinnern kann…
Ich danke dem "Lieu Unique" in Nantes, der dieses für einen Komponisten ganz neue Abenteuer koproduziert und uns außerdem seine große Bühne zur Verfügung gestellt hat, so dass wir diese Installation vor ihrer Uraufführung bei den Donaueschinger Musiktagen testen konnten. In Nantes wird Mille Plateaux in der Saison 2015/2016 zu sehen sein.
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- Donaueschinger Musiktage 2014
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- Pascal Dusapin, Mille plateaux
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