Am Anfang ist die Dunkelheit – doch schon dieses Wort hat Licht, in dem Moment wo es ausgesprochen wird. Eine Dunkelheit, die wir verbalisieren können, hat Licht. Um dies zu erkennen, müssen wir im inneren Sein existieren, d.h. wir müssen am Leben sein – lebendig. Der Betrachter, der die Dunkelheit sieht, kann sie nur dann wahrnehmen, wenn er lebendig ist. Also gibt es vor den Wörtern am Anfang schon Leben, um überhaupt das Stadium des Anfangs wahrnehmen zu können. Es ist die Wahrnehmung des Seins an sich. Beyond the mind. Diese Wahrnehmung wird in Raum und Zeit übersetzt, in genau dem Moment, wo die Gewißheit über Raum und Zeit Teil der Existenz wird. Im Leben ist das Sein dem Raum und der Zeit ausgesetzt. Es ist in einem Stadium der inneren Güte, der absoluten Offenheit und der kompletten Einheit, obwohl es das "Du" versteht, auch wenn dieses "Du" die Trennung vom oberen Wasser und unteren Wasser bewirkt. In diesem Moment ist das "Du" das Licht, das hinter der Finsternis wächst und im Innern Gefühle der Güte im Innersten des Innersten erkennt er das Licht. Und im Dialog mit diesem "Du", nämlich dem Licht, vervielfältigt sich das Leben – in diesem Moment ist reinste Liebe. Dieser Moment ist Sexo Puro. Und in diesem Moment wird die Dunkelheit bestätigt, denn das Mysterium der Liebe bleibt in der Dunkelheit. Denn das Mysterium der Seele hat in der Dunkelheit des einzelnen Individuums die Unendlichkeit der Liebe und den Schutz gefunden. Es ist die Art der Dunkelheit, die das Leben wachsen läßt, dann dem Licht diese Aufgabe zu überreichen, um aus dieser Dunkelheit in den Moment herauszufinden, wo der erste Mensch eine Mondfinsternis erkannte und zwischen Sonne und Mond seine Verbundenheit mit der Erde und mit dem Weltall in einer sanften Explosion der Erkenntnis wahrnimmt. To bring light in the darkness.
Eine der schönsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben machte, war in Begleitung meines Tauchlehrers, der mir die Hand hielt und ich in 20 Metern Tiefe im Mittelmeer in einer wunderbaren Nacht den Entschluß faßte, daß wir gleichzeitig unsere Tauchlampen löschen wollten, so daß ich in absoluter Dunkelheit in der Schwerelosigkeit, nachdem ich seine Hand mutigerweise doch losließ, das Gefühl für irgendeine Art der Orientierung verlor. Ich wußte nicht, wo oben und unten war und ich verlor auch das Maß für Zeit. Angst kam auf und lehrte mich, wie es sich anfühlt, absolut auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, nur dem Geräusch der eigenen Atmung und des schnellen Herzschlags lauschend. Als ich die Tauchlampe wieder anmachte, hatte mich die Strömung ganz woanders hin gezogen und ich mußte mich einmal umdrehen, damit oben und unter wieder stimmten. Das Erstaunen über diesen ganz anders erwarteten Platz, an dem ich mich befand, zeigte mir in einem Augenblick, als ich die Tauchlampe anmachte, daß das Gehirn manchmal sehr ver-rückte Vorstellungen der Realität hat. Im Meer verändern sich die Proportionen, es ist anders, wenn man etwas unter Wasser sieht als über Wasser. Eine warme oder kalte Strömung läßt das Wasser flirren und man sieht es anders. Der Unterschied in der Größenordnung zwischen einem Wal und einem Menschen ist gewaltig. Die Freiheit entsteht dadurch, daß das Wasser im Meer riesige Großflächen auf der Erde miteinander verbindet, das grenzenloses Durchwandern zuläßt. Wenn man bedenkt, welch riesige Distanzen z.B. von Thunfischen überwunden werden. Eines der interessantesten Phänomene im Wasser ist die Verschiebung der Proportionen.
Die in einem ungefähren Abstand von einem Viertelton gestimmten Klaviere sowie das ganze harmonische Gefüge der Musik in Sexo Puro bilden eine Art Klanggewässer um den eigentlichen Anschlag der Instrumente herum. Durch die Verdichtung der Instrumente und die immer im Pianissimo gehaltene Dynamik entsteht ein harmonischer Überbau, der sich wie Farben im Wasser miteinander vermischt und das Licht ganz unterschiedlich bricht. Durch die Verstärkung einiger Instrumente und zwar so, daß Anschläge so weich wie möglich gehalten und die Bässe hervorgehoben werden, wird die Dichte der offenen Zeitstrukturen in meiner Partitur intensiviert. Somit bekommen die kleinsten Bewegungen Farben und Proportionen im Raum.
In unserer Gesellschaft spielen Proportionen eine Rolle, in dem sie Verhaltensweisen prägen. Nun ist es aber so, daß diese Ver-rückung des Gehirns durch das Schwimmen in mentalen Gewässern, die sich immer weiter von der natürlichen Wirklichkeit der Meere entfernen, gewaltige Verschiebungen innerhalb dieser Proportionen bewirken. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist aus dem Gleichgewicht geraten, weil der Mensch sich schon seit sehr langer Zeit in den Mittelpunkt und überproportional groß im Bezug auf die Natur und dem Leben gegenüber gesetzt hat. Natürlich ist dies nur eine mentale Täuschung, da die Realität sich nicht ändern läßt, aber die Wahrnehmungsmuster und deren Umsetzung bewirken, daß das Gleichgewicht innerhalb der Energien, die eine Gesellschaft entwickelt, gestört ist.
Alles ist Energie und Kraft und diese Kraft ernährt Kraft oder entkräftet Kraft – nähert sich dem Leben oder entfernt sich vom Leben. Es liegt an uns, diese Kräfte zu erkennen und deren Verbindungen im Guten zu nutzen. Eine der stärksten Kräfte, die ich kenne, ist die Sanftmut. Diese wächst aus der Güte, der inneren Gewißheit um diese Güte, der Stärke dieser Güte und dem Vertrauen auf diese Güte sowie dem Respekt vor dieser Güte. Sanftmut ist somit eine der schwersten Übungen, die es gibt. Die wirkliche, wahre Sanftmut begleitet mich durch die Arbeit an Sexo Puro, weil ich innere Kraft und Hilfe bei sehr vielen Menschen gefunden habe. Meine Arbeit bewegt sich seit einigen Jahren im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs. Das Konzept welches meiner Arbeit zugrunde liegt, sind die Verbindungen, die möglich sind zwischen menschlicher Zusammenarbeit um der Erkenntnis willen in Bezug auf das Leben und das Leben selbst. Der Dialog, der in der intensiven Arbeit um ein Kunstwerk herum entsteht (Dialoge mit der Zeit, Dialoge mit dem inneren und äußeren Wachstum der Beteiligten, Dialog mit den Jahreszeiten, Dialog mit den verschiedenen Berufen der Mitarbeiter etc.) ist der Energiering, der diese Arbeit schützt und der dieser Arbeit Kraft gibt.
Vom Zentrum der Bühne aus bis hin zu den Wänden des Saales bilden sich Energieringe (z.B. Videoproduktion): diese Ringe funktionieren ähnlich wie jene, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. So funktioniert auch die innere Kraft eines Kunstwerks, das in die Realität hinein geworfen wird. Diesen Stein habe ich mit äußerster Vorsicht ausgesucht und in das Wasser der Zeit mit Güte hineingelegt.
Ringe sind auch Schutz. Ein Satzring beschützt die Musiker. Videobilder, in Ringform angeordnet, beschützen und verbinden mit den Kräften, die sie elektronisch – magnetisch aufgenommen haben. Die Arbeit Sexo Puro spricht auch über Schutz. Sprechen bedeutet Worte zu benutzen und die Verantwortung darüber zu übernehmen. Das Aussprechen oder Aussingen des Wortes Ehrlichkeit schützt uns mit dieser Ehrlichkeit, die wir fähig sind zu singen, d.h. wie versetzen uns in die Ehrlichkeit hinein beim Singen der Ehrlichkeit. Und dies schützt uns vor Unehrlichkeit. So ist ein Wort eine Verbindung zu einem Schutzschild.
Wenn ich Worte und Gedanken wiederhole, stärke ich dieses Wort und stärke ich diese Gedanken. A woman has to carry good thoughts and good ways to make the goodness grow.
Wenn Licht sich mit Wasser verbindet, wenn die Sonne das Meer warm liebt, dann gibt es die Möglichkeit des Lebens. Sexo Puro.
Ich bedanke mich bei allen, die mir selbstlos geholfen haben, diese Arbeit zu realisieren. In Dank.
Maria de Alvear
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