Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "ERINNERUNG, Spuren für Klarinette und Orchester"

Stand
AUTOR/IN
Peter Ruzicka

Tagebuchnotizen zur Entstehung von "ERINNERUNG, Spuren für Klarinette und Orchester"

26. Januar 1997

Am Tag der Hamburger Uraufführung von Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern fragt mich Armin Köhler nach einem neuen Werk für die Donaueschinger Musiktage 1999. Ich sage zu. Denke dabei an zwei frühere Uraufführungen bei diesem so auratischen" Festival der Neuen Musik mit seinen außergewöhnlichen Produktionsbedingungen. Vor fünfundzwanzig Jahren hat Ernest Bour dort mein wohl schwierigstes Orchesterstück Feed back mit unerbittlicher Sorgfalt und Courage aus der Taufe gehoben. Und schon ein wenig Verklärung: Die CD mit dieser Einstudierung erinnert an ein heute fast fremdes strukturalistisches Musikdenken – und an eine damals noch "kämpferische" Zeit der Neuen Musik.

13. Mai 1998

Heute kommt der Auftragsbrief. Erst 2000 kann das neue Stück uraufgeführt werden. Gut so, denn ich bin, mittlerweile frei von Hamburger Intendantenpflichten, mitten in der Komposition meiner Oper Celan. Deren Partitur wird frühestens im Herbst 1999 fertig sein. Die Arbeit daran ließe sich unmöglich unterbrechen. Eine erste Näherung immerhin: das neue Stück wird mit strukturellen Bauprinzipien der Oper zu tun haben, in einem formalen Fortsetzungszusammenhang stehen. Alles noch sehr unbestimmt...

28. September 1998

Ich schreibe Armin Köhler, dass ich an eine Komposition für Klarinette und Orchester denke. Ein Soloinstrument, für das ich zwar 1967 mein Opus 1 geschrieben habe, das aber seither keine prägende Rolle in meiner Musik gespielt hat, es soll gewissermaßen durch das Stück führen und hierbei Identifikation und Distanz vermitteln. Ein Grundgedanke zur Form: Wenn eine definierte musikalische Gestalt bei ihrer Wiederholung auf eine andere "Umgebung" trifft, so meint man Vertrautes zu vernehmen, obgleich doch permanant Neues erklingt. Vielleicht ein wenig so wie bei den isorythmischen Motetten des Mittelalters, wo eine stets gleichbleibende Tonfolge (color) mit einem ebenfalls wiederkehrenden rhythmischen Muster (talea) verknüpft wird. Dort führen Unregelmäßigkeiten aber dazu, dass die rhythmische Figur bei ihrer Wiederholung stets auf andere Melodiesegmente trifft, bis sich nach etlichen Durchgängen talea und color in der ursprünglichen Form wieder übereinanderschieben. Ich werde das kompositorische Material wie aus einem Steinbruch meines musikalischen Gedächtnisses und meiner ästhetischen Erfahrung gewinnen. Und hatte ich nicht bei meinem vor zwei Jahren komponierten 4. Streichquartett...sich verlierend schon einmal den Versuch eines "konzentrischen" Komponierens unternommen, eines Rundgangs durch die verschiedenen Schichten des Gedächtnisses? Das wird es jetzt in der Form dieses "Solokonzertes" fortzuführen gelten...

11. Februar 1999

Ein langer transatlantischer Flug. Karlheinz Stockhausen hat einmal berichtet, dass er auf stundenlangen Flügen über Amerika sein Werk Carré mit den für diese Komposition charakteristischen sehr langsamen Veränderungszeiten "gefunden" habe. Ich muss daran denken und sehe plötzlich, in einem einzigen Moment, das ganze Donaueschinger Stück vor mir, in seiner definitiven Form und in seinem spezifischen "Eigenklang". Ich notiere alles in nur für mich verständlichen Kürzeln und Verlaufsskizzen, ganz überwiegend grafisch. Es ist merkwürdig, dass manche Werke bisweilen lange reifen und während der Arbeit ganz grundlegende Veränderungen erfahren, vielleicht sogar "abirren", in ihren Ansätzen verworfen und dann in der Art eines Durchbruchs neu begonnen werden. Und hier nun eine völlig andere Poetik: das neue Werk, ein immerhin mehr als viertelstündiges Stück, als Ganzes "zusammengedacht" in der Weise, dass alles Weitere nur mehr eine Fixierung der bereits definitiven Werkgestalt darstellen wird. Vielleicht träumen wir Komponisten ja von einer Musik, die in Realzeit aufgeschrieben werden kann. Hierin bestand Scelsis ästhetische Utopie. Vorerst wird es noch monatelanger Anstrengungen bedürfen, die Partitur in ihrer Vertikalen auszuarbeiten, dabei vielleicht für eine Minute Musik eine Woche intensiver Arbeit zu veranschlagen...

19. August 1999

Die Oper ist fertig, nach fast zweijähriger ununterbrochener Arbeit! Erschöpfung. Es wäre gut, für längere Zeit nicht mehr zu komponieren! Ich will jetzt nicht an das Donaueschinger Stück denken.

4. Mai 2000

Noch etwas mehr als fünf Monate bis zum Termin der Uraufführung. Armin Köhler ist sehr erschrocken darüber, dass noch immer keine Note der Partitur vorliegt. Auch Sharon Kam, die Solistin, ist ratlos. Ich weiß, ich bin im Verzug und eigentlich vertragsbrüchig. Aber das Stück existiert in meiner Vorstellung – unverändert und vollständig! Die neu angenommene Salzburger Aufgabe mit ihrer zunehmenden zeitlichen Beanspruchung steht im Wege. Vielleicht muss ich doch noch absagen?

12. Mai 2000

Wolfgang Rihm schreibt mir wohlmeinend: "Deine Klarinettenverzweiflung kann ich sehr gut verstehen, ich habe meine eigene diesbezügliche – wie Du ja weißt – Ton werden lassen. Ein von mir zeitlebens geschätzter Kunstgriff: aus der Not (des Versagens) wird die Tugend (des eben dieses Sagens). Im Grunde muss man bei einem Klarinettenkonzert nur eine Regel befolgen: es nicht so wie Weber oder Elliott Carter zu machen – die lassen die Klarinette für mein Gefühl zu viel Klavierspielen... oder Trompete... oder Hammondorgel...". Dankbar antworte ich: "Übrigens versuche ich bei dem Klarinettenstück, jene Technik des "Übermalens" von gestaltlichem Basismaterial (über die wir einmal sprachen und die Du auch praktizierst) ins Extrem zu treiben. Es sind eigentlich nur vier Klangfelder, um die alles kreist. Dann gibt es Erinnerung und Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung... Aber vielleicht scheitert das ja auch. Mal sehen."

4. Juni 2000

Seit wenigen Tagen endlich Arbeit an der Partitur! Großes Partiturformat mit starker Individualisierung und Innenspannung der Orchesterstimmen. Nur langsamer Fortschritt bei dem Versuch, das vor anderthalb Jahren Vorgedachte wiederaufzunehmen, auszufüllen. Die kompositorische Vertikale ergibt sich wie der Weg des Auges beim Betrachten eines Gegenstandes, wo durch unmerklich viele verschiedene Blicke ein Gesamtbild in der Vorstellung zusammengesetzt wird. Der Titel des Werkes ist jetzt klar: Erinnerung. Ich blicke bei der Arbeit auf einen vielschichtigen Entstehungsprozess meiner eigenen Musik und ihrer Bedingtheit. Ein Spiel mit der Erinnerung auf verschiedenen Ebenen: Was ich sehe, wie ich denke, wie ich damals war, wie es jetzt ist, was ich glaube, was ich gemacht habe.
Ich versuche, die "Erinnerung der Erinnerung" zu aktivieren. Immer mehr Spuren werden erfahrbar. Alle kompositorische Gestalt ist das Ergebnis der Einbettung von Informationen in die Schemata des ästhetischen Weltbildes, das ich schon hatte. Aber manchmal erschüttern neue Signale die Schemata, dann kann es zu Paradigmenwechseln kommen. Ich bin immer offen für solche prägenden Irritationen. Eine Zweite Moderne, einen solchen Durchbruch soll es, muss es geben!

14. Juli 2000

Intensivste Arbeit. Die Partitur von Erinnerung folgt streng dem einmal vorgezeichneten Formplan.
Und dann doch ein "imprévu", eine nicht vorgedachte Überraschung. Zweimal scheint eine harmonische Erinnerung hinter einem Klangvorhang hervor, zwei Taktfragmente, die sich als Mozartsche Textur deuten ließen. Wie suchend, mit äußerst langsamen Veränderungszeiten auf das Klangobjekt reagierend. Vortragsanweisung "verschleiert, lontano"...

1. August 2000

Die Partitur von Erinnerung, Spuren für Klarinette und Orchester, ist abgeschlossen.

Peter Ruzicka

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Peter Ruzicka