Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "Rigirio"

Stand
Autor/in
Stefano Gervasoni, aus dem Englischen: Patrick Müller

Die Paradoxien der Simplizität

...
In der Kunst ist es unmöglich, die Frage von Komplexität versus Simplizität auf die bloße Datenmenge zu reduzieren, die objektiv aufgenommen werden kann. Einem simplen Stück (d.h. einem Stück, das einen simplen Bau besitzt) kann in verfeinerter, also in sensibler und intelligenter Art zugehört werden. Seine Struktur und seine Bestandteile können so weit ergründet werden, bis die Ebene der kleinsten Teile jedes einzelnen Klanges erreicht ist. Ein Werk kann durch die Subjektivität des Hörers "komplex" gemacht werden. Umgekehrt lässt sich ein Stück, dessen Handschrift äußerst komplex zu sein scheint – ein Stück der "Neuen Komplexität" beispielsweise -, in bewusst oder unbewusst simplifizierender Weise hören, was etwa dazu führen kann, dass ein Werk Ferneyhoughs zu einem verzerrten oder übertrieben expressiven Schönberg wird. Eher denn "simple" oder "komplexe" Musik gibt es "simplifizierende" oder "komplexifizierende" Hörer.

Um mit dieser Reihe von Paradoxien fortzufahren: Auf der einen Seite kann jede Zeitspanne, die man in welcher Umgebung auch immer verbringt, mit musikalischen Intentionen gehört werden; dabei werden Zusammenhänge mit bereits bestehenden und zur musikalischen Sprache gehörenden Klängen und Strukturen geschaffen. Auf der anderen Seite kann man einem Stück Musik mit rein akustischen Intentionen zuhören und solcherart überraschende Beziehungen zwischen Klangformen und -ereignissen der Natur und denjenigen von Musik, also kultureller Herkunft, entdecken.

Kurz, ein Komponist arbeitet nicht nur mit einem Ensemble von Parametern, die er kombiniert, vervielfacht und verändert, sondern auch mit dem Gedächtnis, den Fähigkeiten und den Wahrnehmungsarten jedes potentiellen Hörers. Er muss die variablen und unvorhersehbaren assoziativen und imaginativen Suggestionen, die er bei jedem Individuum auslöst, in Betracht ziehen. Meiner Ansicht nach steht der Begriff des Hörers immer im Singular. Ich kann mir einen "kollektiven Hörer" nicht vorstellen – eine Gruppe von Hörern also, die auf ein Stück in derselben Weise reagieren. Eine solche Konzeption des Hörers impliziert ein kompositorisches System, das aus objektiven Elementen besteht und einheitlich wahrgenommen werden kann.

So ist es nicht die Quantität an Information, die den Komplexitätsgrad eines Stückes bestimmt, sondern die Quantität vielfach gerichteter Beziehungen; diese entstehen:

- zwischen Informationseinheiten;
- zwischen Information und Hörerbewusstsein; sie sind abhängig vom Gedächtnis, der Kompetenz, der Bildung, der psycho-physischen Verfassung und dem Geschmack eines charakteristischen und individuellen Hörers;
- zwischen Information und Kulturgeschichte; sie bestehen aus Einflüssen, möglichen Vorwegnahmen, Beziehungen zu anderer Musik oder zu anderen musikalischen Formen und Gestalten;
- zwischen Information und anderen Formen kulturellen Ausdrucks.

...

So, wie ich Simplizität verstehe, ist immer auch Vieldeutigkeit mit im Spiel. Ein Objekt wird um so vieldeutiger, je simpler (im zuvor ausgeführten Sinne) es ist. Für mich rührt suggestive Kraft demnach nicht vom Gesamtbetrag an Information her, der in einem Stück enthalten ist, sondern von einer Simplizität, die mit Vieldeutigkeit gepaart ist. Das am besten geeignete ästhetische Mittel, um diese Mischung von Simplizität und Vieldeutigkeit hervorbringen zu können, ist das ungewöhnliche Detail, das vereinzelte und unerwartete Erscheinen eines Ereignisses, das zuvor nicht bemerkbar war und das trotz seiner Kleinheit oder offensichtlichen Trivialität den Hörer dazu führt, seine Wahrnehmung entweder der gesamten ästhetischen Form oder desjenigen Teiles, der sich in seinem Gedächtnis gebildet hat, neu zu organisieren. Der Hörer wird somit gezwungen, seine gewohnte Hörweise eines Stückes zu ändern und eine neue Perspektive einzunehmen. Metaphorisch und außermusikalisch formuliert: mich interessiert die Entdeckung des Ungedachten (was bisher noch nicht gedacht worden ist) innerhalb des Denkbaren (was gedacht werden kann). Diese Methode, abgeleitet von meiner persönlichen ästhetischen Wahrnehmungserfahrung, versuche ich in meinen Kompositionen weitgehend zu befolgen. Ich möchte nun auf die verschiedenen Arten zu sprechen kommen, in denen sie in meiner Musik verwendet wird.

Sämtliche Hauptmerkmale des Komponierens verweisen auf einen letztlich unfassbaren Begriff von Simplizität scheinbar klar, in Wirklichkeit aber undefinierbar. Ich teile diese Merkmale in zwei Gruppen:

Gruppe A
- die restriktive Auswahl des kompositorischen Materials;
- die Zyklik, die Wiederholung, die Unausweichlichkeit eines Prozesses.

Gruppe B
- der grosse Wert, der dem Detail und seiner präzisen Ausformulierung zugemessen wird;
- die kontinuierlichen Veränderungen des Timbres, die abwechslungsreiche Gestaltung der Farben.

Die hiervon ableitbaren Prozesse sind demnach die folgenden. Eine wohldefinierte Konstellation wird exponiert, oder eine Konstellation hat sich sukzessive selbst definiert, und zwar bis zu einem Punkt, wo ihre Entwicklung keine Widersprüche mehr zu dulden scheint. Diese Konstellation wird dennoch subtil verändert, allerdings ohne dass sich ihr innerlicher Zerfall in irgendeiner Weise zeigt. In jenem Augenblick, in dem sich nur schon die kleinste Abweichung von der Regel ereignet, wird die Aufmerksamkeit des Hörers unmittelbar erregt und seine Neugier neu belebt.

Der resultierende Bedeutungswechsel wird durch den Überraschungseffekt, den der Regelverstoß hervorruft, verstärkt. Einerseits werden unsere Wahrnehmungen wieder neu ausgerichtet, nachdem sie durch den musikalischen Kontext, in dem sie bis zu diesem Augenblick gefangen waren, "hypnotisiert" worden sind. In gewisser Weise wird an die akustische Dimension appelliert; dies rührt allerdings von der musikalischen her und führt zu einer weiteren musikalischen Realität. Andererseits zwingt uns der Regelverstoß dazu, unsere Wahrnehmungen, unser Gedächtnis sowie die bis zu diesem Augenblick entstandenen Assoziationen neu zu arrangieren.

Um die Dinge einfacher zu formulieren, könnte ich sagen, dass die in der ersten Gruppe erwähnten Merkmale dazu beitragen, einen Eindruck von Simplizität zu erwecken; es entstehen Konnotationen von Klarheit, Stabilität, Linearität und Schlichtheit. Die Merkmale der zweiten Gruppe tragen dazu bei, diesen Eindruck Lügen zu strafen. Sie veranlassen den Hörer zu aktiver Tätigkeit und machen ihn wachsam für die Wahrnehmung kleinster Veränderungen. Sie decken eine zuvor verborgene Komplexität auf, die ihn überrascht, nicht nur, weil die Veränderung unmöglich schien, sondern auch, weil dieses Potential von Vielfalt, Instabilität und Veränderbarkeit immer schon vorhanden war.

Die Einheit von Simplizität und Vieldeutigkeit bringt somit einige Paradoxien hervor, die das Hörerlebnis zu einem Entdeckungserlebnis werden lassen. So wird es beispielsweise möglich, innerhalb einer Konstellation, die jegliche Möglichkeit von Bewegung auszuschließen scheint (z.B. Statik, Zyklik, Wiederholung, Unausweichlichkeit), Bewegung nichtsdestoweniger wahrzunehmen. Ein kleines Detail kann die Aufmerksamkeit des Hörers plötzlich erregen. Dieses Detail kann ein Farbeffekt sein oder eine Geste, die entweder durch eine neue Farbe oder aber durch kontinuierliche Farbveränderung hervorgerufen worden ist. Wie dem auch sei, es lenkt von unseren üblichen Standpunkten ab und schafft neue; der Wahrnehmungsakt wird unstabil und das Hören beweglich. So ändert sich auch die Natur der Wiederholung: Sie ist nun nicht mehr Wiederholung eines Identischen. Eine Identität ist durch die ständige Veränderung vorangehender Identitäten entstanden.

Es ist auch möglich, eine akustische Dimension zu entdecken, die aus der eigentlich musikalischen plötzlich auftaucht. Dies kann sich dank der Schärfung kleiner Klangbestandteile ereignen, dank der Dekonstruktion eines Klanges oder dank seiner ständig abwechselnden De- und Rekonstruktion. Es ist die Suche nach etwas, was früher kommt, was hinter oder innerhalb oder um den Ton herum ist, wobei es sich nicht einfach um einen musikalischen Parameter, um eine Figur, um eine Form handelt. Umgekehrt ist es auch möglich, eine musikalische Dimension innerhalb einer rein akustischen auszumachen.
Ein Stück Musik entsteht immer aufgrund eines Zusammenstoßes von Akustik und Sprache oder aufgrund einer Art Verzerrung oder Missverständis der psycho-akustischen Wahrnehmung durch die Fantasie, das Gedächtnis und die interpretativen Akte des Hörers. Das Akustische ist innerhalb eines musikalischen Kontextes eine befremdliche Dimension. Im umgekehrten Sinne allerdings könnten wir sagen, dass Musik eine seltsame Dimension innerhalb eines Kontextes von Geräuschen und Klanggesten darstellt. Das Erscheinen einer befremdenden Dimension innerhalb einer anderen zwingt den Hörer dazu, seine Ergebnisse in Frage zu stellen. Es entwertet die Muster, mit denen ein Musikstück gelesen worden ist, und veranlasst den Hörer, die gesamte Anordnung der von ihm gesammelten und interpretierten Daten neu zu arrangieren.

Ein anderes paradoxes Phänomen ist die Entdeckung einer räumlichen Dimension – von Tiefe oder Schichtung – in der Musik selbst. Dieses wird durch die Mittel der musikalischen Sprache hervorgerufen: Registerumfang, Dynamikbereich, Artikulation der Phrasen, instrumentale Timbres und Orchestrierung, d.h. deren Mischung und die Mischung ihrer dekonstruierten Teile. Musik hat alle diese Mittel zur Verfügung, um Gewicht zu geben oder wegzunehmen, um in verschiedenen Graden zu betonen und zu verbergen, um den Eindruck von Raum zu erwecken. Diese räumliche Dimension ist virtuell und reicht weit über den – wie auch immer angeordneten – physischen Raum, in dem die Instrumente aufgestellt sind, hinaus. Sie materialisiert sich im Geist des Hörers und führt dort zu weiteren Andeutungen eines impliziten Raumes.

Es sollte inzwischen evident geworden sein, dass das Timbre das wichtigste Mittel ist, mit dem ich Beziehungen in impliziter Weise schaffe und durch das ich die Bestandteile eines Stückes miteinander verknüpfe. Die von mir geschaffenen Beziehungen entstehen zwischen musikalischen Objekten oder zwischen ihren inneren Bestandteilen; dies ist mein bevorzugtes Verfahren, um Vieldeutigkeit hervorzubringen, um eine Oberflächenbeschaffenheit von einem Objekt zu entfernen und es mit einer anderen oder mit anderen zu versehen; so wird es von demjenigen Objekt, dem es ursprünglich (in verschiedenen Graden) ähnlich war, unterschieden bzw. umgekehrt an jenes Objekt, das ursprünglich unterschieden war, angeglichen.

Eine äußerst subtile Behandlung des Timbres – worin immer wieder neue Beziehungen zwischen den Dingen entdeckt werden können – setzt die Absichten traditioneller Orchestrierung in die Tat um. Neben der Möglichkeit, Farben zu erfinden und in verführerischer Weise zu mischen, erlaubt dies, Beziehungsstrukturen zu schaffen, Strukturen also von Referenzen, Anspielungen, Assoziationen, Echos, Raumprojektionen, Implikationen, Betonungen, Lichtern und Schatten. Dank diesem Beziehungsnetz kann in der Musik die Illusion von Sinn erweckt werden – neue Suggestion für die Imagination des Hörers.

Stand
Autor/in
Stefano Gervasoni, aus dem Englischen: Patrick Müller