Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "Polis, Wachs und Pomade"

Stand
Autor/in
Sven-Åke Johannson

Die Kachel

ist vielfältig anbringbar. Sie erzeugt, wenn auch sie in sich gemustert ist, horizontal/vertikal/diagonal angebracht, ein größeres Muster. "Pausen" entstehen: sodann ein langsamer Rhythmus, dichter gesetzt ein schnellerer. Seit Urzeiten hat die Menschheit mit diesen Mosaiksteinen, (hoch diffizil u.a. auf der iberischen Halbinsel) sich Ausdruck verschafft. Die Kachel ist kantig, meist quadratisch, kann aber in den Zusammenfügungen ganz weiche Gesamtmuster ergeben. Sie spricht zum Auge, man liest sie aber anders als "Sprache", sie ist auch kein Kunstwerk und bietet doch Einsicht in die geheimnisvollsten und abstraktesten Gedankengänge der Menschen. Sie kann sein wie gute Musik: hat Oberfläche, Patina, und lässt sich schlecht einzeln ersetzen durch "eine" Neue. Sie ist aber auch kein Gebrauchsgegenstand.

In mancher der neu zu schaffenden Musik erkenne ich Merkmale der Anordnung der Kachellegung/-gestaltung: keine schwungvoll expressiven Pinselgesten, sondern sich verzahnende Muster, auch das reine Badezimmer ist mit den "leisesten" "Nichtmal-Mustern", sondern minimal veränderten Weisschichtungen oder Patinaungleichheiten (als Kernraum einer Wohnung) vertreten.

Auch als Stapel (unangebracht) ist die Kachel schon imaginär als Fläche (angebracht) zu lesen: Wiederholungsmuster oder Repetitionen in der Musik geben oft in der Vorstellung den gleichen "Effekt" von endlosen Weiten und Unbegrenztheit. Die Kachel in der Reihe oder Fläche ergibt keine Partitur, sie ist aber oft, wie die Musik selbst sein soll: ausdrucksvoll, aber nicht expressiv, ausschnitthaft "kantig", abstrakt da, wo der Mensch Naturalismen, Romantizismen bevorzugt. Er gibt sich mit der Kachel der Abstraktion fast unbewusst hin: Repetition, Wiederholung, Pausen, Verdichtung: Parameter, die scheinbar sonst nicht wesentlich für ihn sind. So auch in der Musik: Material, Figuren geordnet, wie oben erwähnt, ergeben eine übersetzte, konkrete Form der Umwelt, die die tatsächliche Musik ist. Nur verzaubert, abstrahiert und verwandelt erreicht sie den (Zu)Hörer!

Die Fugen zwischen den Kacheln ergeben ein für sich stehendes Muster. Das ist das einzige, eigentliche "Muster". Sich verjüngend, perspektivisch werdend, sind sie die Form, wobei die Kachel der Inhalt wäre. So wie die Vorstellung des Stapels (der Kacheln) sogar die Fugen und ihre perspektivischen Besonderheiten miteinbezieht.

Einige Kacheln erhalten ihre Bedeutung erst durch die vereinzelte Verteilung auf großen Flächen. ("leere Muster" ergeben große Pausen, vertikal wie horizontal). Die Zuordnung der Farben, Größen und Rhythmisierung machen die Kacheln "lebendig", so wie in der Musik die Pausen entscheidend für die Entstehung des Stücks sind. Die Verbindung der Musik zum "Kachellegen/-setzen" ist entschieden näher als die zur Malerei.
Ist Kakofonie die Beschimpfung eines Stückes, das zu sehr dem Prinzip der "Kachelkunst" folgt?

Es ist so, als wären die gebrochenen Zusammenfügungen der aufeinanderstoßenden Farben wie Meereshorizonte, mehr oder weniger scharf, diffus, je nach Sonnenstand, Wind und Jahreszeit. – Die Glasur!, schützt die Abstraktion vor einer allzu intensiven Nähe. Sie bringt eine gewisse Distanz und verleiht der Farbgebung und Musterung eine distanzierte Reflexion und sogar "mythische" Betrachtung! – (Die im deutschen Sprachgebrauch verwendeten Ausdrücke, die mit dem "kacheln" in Verbindung stehen, lassen wir hier unerwähnt) – !

Das Wort Ka-chel ist ebenfalls wie ein kantiges Quadrat. Ka: die Ränder bezeichnend, das chel: eher die anzufassende Oberfläche. Große Flächen der "Kachelkunst" sind wie stumme Musik, und vielleicht auch vice-versa.

Die Spielregel

Für diesen "Bariton", mit dem – wie ein Stein mit dem Hals – das Bild von Stufen verbunden ist, die man in die Erde treibt, um in den Keller zu gehen oder Schritt für Schritt eine gewisse Anzahl von Metern unter die Meereshöhe hinabzusteigen, liefert ein Zahnarzt, dessen Praxis sich in der Rue d'Auteuil befand und der manchmal ins Haus kam, um zusammen mit meinem Vater dem Gesang zu frönen – während wir ihn weniger dieser Rachenübungen, sondern unserer Zahnpflege wegen aufsuchten -, ein glänzendes Beispiel, denn seine Stimme war so mächtig und tief, dass sie (wie ein vorbeifahrender, mit Fässern oder Pflastersteinen beladener Lastwagen) die Fensterscheiben zum Zittern brachte, während dieses Erzittern, von meinen eigenen Trommelfellen imitiert, immer, wenn das Phänomen auftauchte, sich unweigerlich in mir als Ausbruch eines Schreckensschauers niederschlug. Dieser Mann im reifen Alter – sehr groß, glatzköpfig und mit weißen Härchen am Körper, den ich nie anders sah als mit dunklem Blick und ernster Miene – öffnete beim Singen einen jener Münder, die man wegen ihrer Größe gern mit Backöfen zu vergleichen pflegt. Vielleicht war es ihm, durch dieses ständige Beugen über die weitaufgerissenen Münder seiner Patienten angesteckt, zur Gewohnheit geworden, dieselbe Höhle vorzuzeigen (die Höhle des primitiven Menschen, Troglodyten oder Menschenfressers)? Wie dem auch sei, dieses Detail war kaum geeignet, mich zu beruhigen. Heute, wo ich die Sache mehr auf die leichte Schulter nehmen kann, frage ich mich, ob es amüsant oder Zeichen eines äußerst schlechten Geschmacks wäre, einen Zusammenhang zu unterstellen zwischen der Tatsache, dass der Mensch sich von berufswegen mit hohlen Zähnen (die er in plombierte verwandelte) beschäftigte, und dem ungewöhnlich bleiernen und hohlklingenden Charakter mancher Noten, die dem riesigen natürlichen Resonanzkasten entschlüpften, der ihm als Steckenpferd diente.

Wenngleich der Gesang, der dem Mund entweicht, nachdem er die weiße Hürde der Zähne überwunden hat, wie die Sprache in der Kehle geboren wird und denselben Weg wie sie nimmt, unterscheidet er sich dennoch und nicht allein wegen seiner melodiösen Natur von jener, sondern weil er offenbar aus weit größerer Ferne angereist kommt. Tatsächlich scheint er aus der Brustgrube selbst oder oft sogar aus dem tiefsten Grund der Eingeweide hochzuquellen, mit Schwingungen befrachtet, die nur die Ausdünstungen sind, mit denen er sich während seiner Latenzzeit in jener unterirdischen Welt gesättigt hat. Sei es die Stimme eines arabischen oder besser noch eines andalusischen Sängers, die sich eine Furt quer durch die Organe zu brechen scheint, sich den Kanal einer engen, doch ausreichend durchlässigen Ritze bohrt und selbst die tiefsten Muskeln berührt; sei es die Stimme eines Opernkünstlers, aus reinem Fels gebrochen oder im weichsten Stahl geformt, wenn es sich um einen Sänger handelt; eine Stimme, die der schwülen Atmosphäre eines Treibhauses entströmt oder sich in zerbrechlichen Glasfasern spannt, wenn es sich um eines jener Geschöpfe handelt, die man statt "Sängerinnen" lieber "Primadonnen" nennt, obwohl der "Primadon" als Gattung unbekannt ist; sei es eine Allerweltsstimme, die dem beliebigsten Wesen zur fadesten Romanze oder zum albernsten Refrain dient: geheimnisvoll ist die singende Stimme verglichen mit der sprechenden Stimme.

Das Geheimnis – wenn man unbedingt den Bedürfnissen der Rede folgen und dem eine Gestalt geben will, was per definitionem keine hat – kann dargestellt werden als eine Marge, eine Franse, die das Objekt umrandet, es isoliert und gleichzeitig seine Gegenwart betont, es maskiert und gleichzeitig bestimmt, es in eine Harlekinade von Fakten ohne erkennbaren Faden noch Grund einflicht, während gleichzeitig die besondere Farbe, die es ihm gibt, es dem sumpfigen Boden entzieht, wo das Gemeine der Fakten sich klumpt. Verglichen mit dem normalen Vortrag besitzt der musikalische Vortrag offenbar die Gabe eines ähnlichen Irisierens, im Feenmantel, der Indiz ist für eine Komplizität zwischen dem, was so aussehen könnte, als sei es nichts als eine menschliche Stimme, und den Rhythmen der Fauna, der Flora, ja selbst des Mineralreichs, wo jeder Anflug einer Geste sich in eine erstarrte Form umschreibt. Und geht man von der gesprochenen Sprache – die selbst recht rätselhaft ist, denn erst in dem Augenblick, wo sie, ob auf äußerliche Weise oder nicht, formuliert ist, wird das Denken wirklich – zur gesungenen Sprache über, steht man vor einem Rätsel zweiten Grades, da man in einem Sinn körperlichen Strukturen näher ist (deren direkte Frucht jede ausgesandte Note zu sein scheint) und sich mithin offenbar auf festem Boden zu befinden wähnt, man aber in Wahrheit sein Herz den Fängen des Unaussprechlichen geöffnet hat und die Linie der Melodie sich liest wie die Übersetzung in ein rein klangliches Idiom dessen, was mit dem Medium der Wörter unsagbar bliebe. Und wenn die Quelle des Gesangs statt eines menschlichen Mundes (das heißt eines Organs, das wir mehr oder weniger gut kennen) ein mechanisches Gerät ist, das der ohnehin vorhandenen Fremdheit des musikalischen Vortrags noch die Überraschung seiner Wiedergabe hinzufügt, steht man im Grunde vor einem fast reinen Mysterium.

aus: Michael Leiris "Die Spielregel", Matthes & Seitz Verlag München

Stand
Autor/in
Sven-Åke Johannson