Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: Ausstellung "Ahead of the 21st century"

Stand
Autor/in
Margrit Brehm

Don’t trust me - Trust me

First Survey: The Pisces Collection

Jeder Fisch ist anders. Jeder hat seinen eigenen Schaukasten. Alle Schaukästen sind gleich. Es herrscht Ordnung. Das Schweben der Körper in klarer Flüssigkeit kann nur einen Moment über die Tatsache hinwegtäuschen, dass diese Fische keineswegs in ihrem Element sind. Als Präparate im Formaldehydbad sind sie als Anschauungsobjekte dem Blick feilgeboten. Angehaltenes Leben. "Alone Yet Together" hat der englische Künstler Damian Hirst diese Arbeit aus dem Jahr 1993 betitelt, in der er einmal mehr eine vorgeblich wissenschaftliche Präsentationsform wählt, um diese durch die Transformierung in den Kunstkontext zu hinterfragen und damit neue Wahrnehmungsperspektiven zu eröffnen. Wir sehen Fische, aber wir begreifen sie als Metaphern für den Menschen. Ein reales Objekt, das sich als geheimnislose, systematische Ordnung darstellt, wird zum Auslöser, um über Tod und Leben, Isolation und Massengesellschaft, Wissenschaft und Kunst nachzudenken. Im white cube des Ausstellungsraumes verändern sich die Vorzeichen. Im Namen der Sammlung steht "pisces" für das Sternbild des anonymen Sammlers. Die Fische im Werk Damian Hirsts stehen metaphorisch für den Menschen.

Fische und pisces – ein Bild und ein Wort – und daneben eine Vielzahl von Verständnismöglichkeiten, je nachdem, ob man die Perspektive der Astronomie, der Astrologie, der Biologie oder der Ikonographie einnimmt. Bezeichnung und Bezeichnetes lassen sich einander ebensowenig eindeutig zuordnen wie Bild und Bedeutung. Im Hinblick auf die Präsentation einer Sammlung zeitgenössischer Kunst stellt schon die gewählte Kombination von Name und Motiv klar, dass dem Spiel mit den Bezügen zwischen Worten, Begriffen und Bildern sowie der daraus resultierenden Frage nach einer möglichen Wahrheit im Zeichensystem Kunst besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Es verwundert daher kaum, dass die Wahl auf Kunstwerke fiel, die – gegenüber der Eindeutigkeit – der Multiperspektivität den Vorzug geben. Im Zentrum des Interesses stehen künstlerische Strategien, die der visuellen, sinnlichen Präsenz des Kunstwerkes zwar große Bedeutung beimessen, diese aber zugleich als Methode und/oder Resultat einer kritischen Reflexion dessen erkennbar werden lassen, was Kunst machen am Ende des 20. Jahrhunderts bedeuten kann.

Gesammelt wurde und gezeigt wird Kunst aus den 80er und 90er Jahren von 21 Künstlerinnen und Künstlern aus den Vereinigten Staaten, Europa und Japan. Beeindruckt die Liste der internationalen Stars, die in der Sammlung vertreten sind, auf Anhieb, so wird die Konsequenz, mit der hier auf höchstem Niveau sammlerisch an einem schwierigen Thema gearbeitet wird, erst in der Konfrontation mit den ausgestellten Werken deutlich. Erst in der Zusammenschau der Gemälde, Objekte, Fotografien und Installationen lässt sich der Subtext erkennen, der vielleicht bei der Wahl des Einzelwerks eine Rolle gespielt haben mag.

Die "Pisces Collection" versammelt unterschiedlichste künstlerische Formulierungen, die aber alle auf die eine oder andere Weise Auseinandersetzungen mit dem Bild – sei es das triviale Werbeimage oder das Kunstwerk -, mit der Welt der Zeichen, also Schrift und Sprache, und zugleich eine Reflexion des eingesetzten Mediums darstellen. Das entworfene Zeitbild wird dabei nicht durch die Beschränkung auf eine Künstlergeneration eingeengt, sondern thematisiert zugleich den Perspektivenwechsel, den die Künstler verschiedener Altersgruppen in ihren Werken deutlich machen. Es sind ausschließlich entschiedene, kompromisslose künstlerische Setzungen, deren erklärtes Ziel es ist, mehr Fragen zu stellen als zu beantworten und von denen viele die griffige Konfrontation ebensowenig scheuen wie die provokative Geste oder den wohl kalkulierten Schock. Die Ausstellung "Ahead of the 21st Century" ermöglicht es nun erstmals, einen Teil der "Pisces Collection" zu sehen und dadurch in dem gebotenen Panorama unterschiedlichster künstlerischer Positionen gemeinsame Fragestellungen, Herangehensweisen oder Strategien zu entdecken, die vielleicht aus der Perspektive zukünftiger Generationen als Kennzeichen der Kunst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert definiert werden.

Cindy Sherman, Paul McCarthy und Damian Hirst provozieren das Publikum, indem sie es durch Angriffe auf moralische oder ethische Werte schockieren oder den Ekel als Kunsterfahrung thematisieren. Paul McCarthy, dessen Performances und Objekte immer wieder gnadenlos das Verdrängte, Verbotene oder Perverse anschaulich vorführen, ist in der Pisces Collection mit Fotografien der "Propo-Objects" und "Masks" vertreten. Erscheint die Maske bei McCarthy als Relikt, das fotografisch dokumentiert und durch die Vergrößerung stilisiert wird, so sind bei Cindy Sherman die Masken zugleich Bildvokabular und Protagonisten, aus denen die Künstlerin vor der Kamera ihr Bild inszeniert. Hier ist es gerade die Ambivalenz zwischen Angst einflößendem Horrorszenario und seiner Entlarvung als Mummenschanz, die den Reiz der Bilder ausmachen. Im großformatigen Abzug verliert das Abgebildete seine Eindeutigkeit, wirkt – zumindest auf den ersten Blick – abstrakt. Das Thema sind nicht die verschimmelten Lebensmittel, sondern die gestaltete Fläche, das Bild. Abscheu und Faszination mischen sich. Fast gegen unseren Willen entdecken wir die Schönheit des Bildes, das wir aufgrund des Dargestellten als ekelerregend kategorisieren.

Eine ähnliche Verunsicherung unserer Wahrnehmung hat auch die Konfrontation mit den "Marble Floors" von Wim Delvoye zur Folge. Hier erfreut sich unser Auge so lange an der Kunst – hier, verstanden als tradiertes handwerkliches Können -, der Präzision des Ornaments in warmen Rottönen, bis unser Gehirn, das auf die Kategorisierung des Wahrgenommenen trainiert ist, uns darüber aufklärt, dass die kunstvollen Mosaikböden, die wir gerade bewundern, keineswegs aus Stein, sondern aus Salami, Schinken, Mortadella und anderen Wurstsorten zusammengesetzt sind.

Bereits Ende der 70er Jahre hat John M Armleder begonnen, Bilder zu malen, die aus einfachsten – häufig das Vokabular der konstruktivistischen oder konkreten Kunst gezielt zitierenden – Ordnungen aufgebaut waren, aber durch kleine Verschiebungen oder eine andere Farbwahl geradezu subversiv die Frage nach einem Fortschritt in der Malerei stellten. Aus der Einsicht, dass im Grunde jede malerische Geste, die ein Bild bestimmt, in gewisser Hinsicht zitathaft ist, entschied er sich zum einen für rapporthafte Bilder, wie die "Dot-Paintings", in denen Erfindung oder Geste gar keine Rolle spielen, und zum anderen für "Pour-Paintings", in denen die Farbchemie das Resultat entscheidend mitbestimmt. Aber die Malerei ist bei John M Armleder nur ein Teil eines stets in Bewegung bleibenden Kunstkosmos, der im bewährten rewind & fast forward-Verfahren immer wieder neue und überraschende An- und Einsichten zulässt.

Grenzüberschreitungen, die unsere Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage stellen und dadurch ein anderes Sehen des Alltäglichen oder eine Infragestellung des guten Geschmacks provozieren, kennzeichnen die Arbeiten von Jeff Koons. "New Hoover Deluxe Shampoo Polisher" von 1980 ist ein Frühwerk des Künstlers, in dem die Sakralisierung des Produkts durch die Darbietung der Putzgeräte in einer beleuchteten Vitrine anschaulich vollzogen wird. So ironisch oder gar häretisch das Werk – immerhin 67 Jahre nach Duchamps erstem ready-made – auf den Besucher auch wirken mag, so wenig findet sich eine solche Sichtweise im Statement des Künstlers. Ganz im Gegenteil: Folgt man seinen Worten, nimmt sie ernst, so wird deutlich, dass die Strategie von Koons darin liegt, dass er den Staubsauger nicht nur wie Kunst inszeniert, sondern auch genauso betrachtet, seine formalen und metaphorischen Qualitäten verbalisiert. Allein durch diesen Perspektivenwechsel eröffnet sich eine neue Qualität der Wahrnehmung, die völlig unabhängig von der Funktion des Objektes ist. Ein Staubsauger kann eine Fontäne sein.

Die "Objektivierung" einer Maschine führt Sylvie Fleury in "283 Chevy" vor. Der verchromte Abguss eines Motors zelebriert nicht nur die Schönheit technischer Funktionalität, sondern führt sie zugleich ad absurdum. Gerade in ihren Arbeiten mit berühmten Autoklassikern gelingt es der Genfer Künstlerin immer wieder, die eigentümliche Identifikation des Autoliebhabers mit seinem Gefährt anschaulich vorzuführen. So wird aus dem Motor das Herz des Autos, in dessen Takt wir uns bewegen. Isoliert auf dem Sockel, glänzend und schön, wird er zum Pseudo-Fetisch einer konsumorientierten Gesellschaft. Die diesseitigen Glücksversprechen der Werbung, die das Seelenheil des Konsumenten bestimmen, spiegeln sich in den "Current Issues" der Hochglanzmagazine, die Sylvie Fleury zum Wandbild kombiniert und damit das Frauenbild der Massenmedien vorführt, das nicht mehr ist und sein will als eine Collage aus Markenartikeln und Schönheitstipps.

Für Richard Prince, einen Hauptvertreter der Appropriation Art, dient die Plattheit des banalen Bildes als Ausgangspunkt für seine zynischen Kommentare über die Gesellschaft, die sich selbst in diesen Bildern widergespiegelt findet. Auf großen Leinwänden über oder unter zitathaft verwendeten Malereispuren oder auf monochrome Flächen mit Siebdruck aufgebracht und stetig wiederholt, dienen die nacherzählten Witze oder kopierten Witzblattzeichnungen Prince nicht nur zur Thematisierung einer redundanten Geste, sondern der aus ihnen sprechende, dummdreiste vermeintliche Humor, der nicht selten auf Rassismus und Frauenfeindlichkeit basiert, wird so überstrapaziert, dass auch dem Letzten das Lachen vergeht.

Die Kombination von Schrift und Malerei auf ganz anderer Ebene kennzeichnet viele Arbeiten von Christopher Wool. Mit einer einfachen Schablonenschrift bringt Wool Wörter, Sätze oder Satzfragmente auf den weißen Bildgrund auf. Gegen die gewohnte Leserfahrung verstoßen die Texte, weil die Ordnung zwischen den Buchstaben oder Worten gestört ist. Es gibt nur Großbuchstaben, die der Künstler, der inneren Bildlogik folgend, durch größere oder kleinere Abstände voneinander trennt, wodurch die Lesbarkeit erschwert wird. Die Anordnung der Buchstaben nach ästhetischen Prinzipien zielt jedoch immer – selbst dann, wenn Verkürzungen die Worte nur andeuten, wie "TRBL" für TROUBLE – auf einen Wortsinn ab. Im Gegensatz zur Verwendung der Schrift im Sinne eines Zitats bei Richard Prince setzt Wool die Buchstaben als Sinn- und Bildzeichen ein und misst ihnen damit gleichermaßen inhaltliche und formale Bedeutung bei.

Diese Doppeldeutigkeit findet sich auch in den installativen Arbeiten von Jack Pierson, der Signalworte, wie "Fool" oder kurze Wortkombinationen wie "The One and Only" aus Buchstaben unterschiedlichster Herkunft zusammensetzt oder sie als Schriftzeichen auf Leuchtkästen montiert. Arbeitet Pierson mehr mit umgangssprachlichen Formulierungen, so nehmen viele der Texte Christopher Wools auf die Produktion und Rezeption von Kunst Bezug. Wie wichtig es ihm dabei ist, die definierte Zeichenhaftigkeit der Schrift auf die Malerei als selbstreferentielle Geste zu beziehen, zeigen gezielt eingesetzte Ungenauigkeiten, Spritzer oder Farbtropfen.

Die Frage nach der Möglichkeit individuell geprägter Darstellung thematisieren auch die in der Pisces Collection vertretenen Arbeiten von George Condo, die zur Gruppe der "Jazz Paintings" gehören. Sie sind gleichermaßen eine Hommage an die Musik der 40 er, 50er und 60er Jahre und die Malerei des Abstrakten Expressionismus.

"Kunst machen ist ein Akt der Täuschung... Auf eine Art mache ich meine Bilder, um meinen eigenen Mangel an Glauben zu testen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was ein abstrakter Maler macht, der seinen Glauben immerzu bestätigt." schreibt Ross Bleckner und macht damit deutlich, dass auch er wie George Condo und David Salle Malerei über Malerei betreibt. Im Unterschied zu ihnen, setzt Bleckner aber nicht auf die gezielte Dekonstruktion der Bildkomposition durch Zitate, sondern löst die Präsenz des Bildes zugunsten einer vibrierenden Lichtmagie auf. Der Eindruck ephemerer Ungreifbarkeit, den die Gemälde Bleckners vermitteln, ist das Resultat einer absolut geschlossenen Bildoberfläche, die in einem langwierigen Arbeitsprozess mit Ölfarben, Wachs, Metallpigmenten, Graphit und Enakustik Schicht für Schicht aufgebaut wird.

Nicht nur die Entscheidungen für, sondern auch die gegen bestimmte Werke aus einem Oeuvre erzählen etwas über eine Sammlungsstrategie. So sind Ugo Rondinone und Cindy Sherman, beides Künstler, in deren Werk die Selbstinszenierung als Rollenspiel große Bedeutung hat, in der Ausstellung ausschließlich mit Werkkomplexen vertreten, in denen dieser Aspekt keine Rolle spielt. Einmal auf diese Präferenz der Auswahl aufmerksam geworden, wird schnell deutlich, dass die gleiche Zurückhaltung gegenüber der figürlichen Darstellung und einem psychologisierenden Menschenbild auch für die anderen gezeigten Gemälde, Fotografien und Objekte gilt. Wenn die menschliche Figur in den Werken erscheint, dann ist ihr Abbild Ausdruck eines Stils oder Klischees, wie bei Richard Prince, David Salle und Sylvie Fleury oder wird wie bei "Frau" von Fischli & Weiss als eine mögliche Erscheinungsweise von Welt objektiviert und in eine Reihe mit "Haus" und "Krähe" gestellt.

In den Fotografien von Andreas Gursky und Thomas Struth schließlich nimmt der Mensch eine Statistenrolle ein, die ihn als Teil einer räumlichen Situation nicht aber als Individuum ausweist. Diese Feststellung bestätigt die anfangs aufgestellte These, dass es ein wesentlicher Aspekt des Profils der Pisces Collection ist, Werke zu sammeln, in denen der Reflexion der Kunst über Kunst – oder über das Bild als Informationsträger im allgemeinen – größere Bedeutung beigemessen wird als einer psychologisierenden Bildidee oder der Selbstdarstellung des Künstlers.

Unter diesem Aspekt betrachtet wäre die Entscheidung für "Red Light District" von Mariko Mori, die einzige Arbeit in der Ausstellung "ahead of the 21st Century", in der Produzentin und Protagonistin identisch sind, nur dadurch erklärbar, dass die Künstlerin zwar die Hauptrolle in der Inszenierung übernimmt, aber dabei nicht nur ihre Identität hinter der Maske der dargestellten Rolle verschwindet (was eine Parallele zu den Werken Cindy Shermans darstellt), sondern sich darüber hinaus selbst zum Medium stilisiert. Zwischen Puppe und Cyborg angesiedelt, scheinbar unsichtbar mitten im pulsierenden Nachtleben Tokios stehend, definiert Mori – vielleicht ihre Rolle als Künstlerin – sicher aber ihre Rolle im Bild als die einer Außenstehenden.

Die Idee der Weltaneignung als per se unvollendeter Prozess und die ständige Erweiterung der Welt der Dinge um neue Facetten stellen eine Verbindung her zwischen den nicht selten raumgreifenden Skulpturen von Franz West und den häufig kleinen, die Idee des Modells variierenden Objekten von Peter Fischli und David Weiss, die seit 1979 gemeinsam arbeiten. Im Zentrum der Werke – seien es Fotografien, Filme, Objekte oder Installationen des Künstlerduos – steht meist das Spannungsverhältnis zwischen Alltagserfahrung und Repräsentation in der Kunst, wobei sowohl der Wahl des Mediums wie auch des Materials große Bedeutung beigemessen wird. So sind die hier gezeigten Objekte alle aus synthetischem Kautschuk gegossen, also einem kunstfremden Material. Der normalerweise zur Herstellung von extrem belastbaren und zugleich elastischen Gebrauchsgegenständen, etwa Autoreifen, verwendete Rohstoff wurde hier in Formen gegossen, die einfachste Begriffe wie "Haus", "Frau", "Auto", "Vase" oder komplexere wie "Marokkanisches Sitzkissen" in dreidimensionale Objekte umsetzen.

Andreas Gursky, Thomas Struth und Thomas Ruff zählen derzeit zu den international erfolgreichsten Fotokünstlern ihrer Generation. Alle drei haben bei Bernd und Hilla Becher studiert und die strenge, distanzierte Bildsprache ihrer Lehrer im eigenen Werk weitergeführt und variiert. Die großformatigen Fotografien von Andreas Gursky fesseln den Betrachter durch die in ihnen vollzogene Gleichzeitigkeit von Nah- und Fernsicht. Das, was unser Auge nicht zu leisten vermag, nämlich zugleich die Totale und das Detail wahrzunehmen, ermöglicht das Kamerabild. Das bedeutet aber auch, dass die Fotografien Gurskys mit ihrer unglaublichen Tiefenschärfe und dem daraus resultierenden Detailreichtum uns zwar Bilder von der realen Welt liefern, aber diese nicht mit den real von uns in der Welt erfahrbaren übereinstimmen. Verschärft wird die Irritation zusätzlich dadurch, dass Gursky meist die Vogelperspektive wählt und damit den Betrachter zugleich weit weg von und über dem Geschehen positioniert. Der Eindruck einer künstlichen Welt zu begegnen, ist aber zugleich der Ausgangspunkt, um die Fotografie als Medium der Transformation zu begreifen und deren Eigengesetzlichkeit und manipulative Kraft zu reflektieren. An diesem Punkt treffen sich die Interessen von Andreas Gursky und Thomas Struth, obwohl der Weg, der Struth zu dieser Hinterfragung des Bildbegriffs führt, ein ganz anderer ist. In seinen Aufnahmen von Straßen, Plätzen und Stadtlandschaften, die zugleich als formal perspektivische Räume und als Ausdruck einer vom Menschen geschaffenen Welt betrachtet werden, orientiert Struth seine Kameraperspektive am Blickwinkel des sich durch den Stadtraum bewegenden Menschen. Dass den Betrachter dennoch angesichts vieler der Arbeiten ein Gefühl der Fremdheit beschleicht, liegt zum einen daran, dass Struth häufig mit Schwarzweißfotografie arbeitet, wodurch automatisch eine Abstraktion vollzogen und die Nüchternheit der Aufnahme gesteigert wird.

In nüchternem Schwarzweiß gehalten, präzise mit der genauen Angabe der Zeit und des Ortes betitelt, strafen die Sternbilder von Thomas Ruff jede romantische Vorstellung des Himmelszeltes Lügen. Für das von anonymer Hand, aber auf höchstem Niveau der Astrofotografie produzierte Negativ fällt der Künstler nur die Entscheidung, in welchem Format das Bild abgezogen werden soll. Die Sicht in den Sternhimmel, die der großformatige Fotoabzug uns suggeriert, erweist sich aber als trügerisch. Die photochemische Substanz reagiert, wie unser Auge, allein auf das Licht. Das Sternenlicht kann aber trotz der Lichtgeschwindigkeit, mit der es durchs All zur Erde kommt, nur so verzögert wahrgenommen werden, daß wir nur zu sehen glauben, wo sich die glühenden Gaskugeln befinden.

"Ahead of the 21st Century" als Titel wie als Ausstellung der Werke aus der "Pisces Collection" stellt eine Behauptung auf. Die Präsentation von Werken aus den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein souveräner Querschnitt dessen, was die internationale Kunst- Community in den letzten 20 Jahre als diskursrelevant erkannt und definiert hat. Es sind Kunstwerke, aus denen der radikale Relativismus eines Denkens spricht, das Wahrheit nur noch als eine mögliche Interpretation einer Interpretation begreift. Die Wahrheitssuche, prägend für eine Kunstauffassung, die das Bild als individuellen Erfahrungsraum nutzt, wird hier durch die coole Geste des Samplings ersetzt. Es ist eine Strategie, die eine mögliche Konsequenz aus dem Verlust der Unschuld zieht. Schon deshalb muss jede Geste in Frage gestellt, also in sich gebrochen werden, muss jede Setzung bereits ihre Negation beinhalten. Das faszinierende Paradoxon bleibt die Konstruktion, die dieser Haltung Ausdruck verleiht: Eine künstlerische Strategie, die im Bewusstsein zu täuschen, die Bildmittel so einsetzt, dass das Erscheinungsbild als Täuschung erfahrbar wird, täuscht eben gerade nicht. Die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit in Bildern bleibt dennoch offen. Sie versuchen nicht Antworten zu geben, sondern formulieren neue Fragen.

Stand
Autor/in
Margrit Brehm