Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Schatten vergessener Ahnen"

Stand
Autor/in
Christoph Becher

Einmal saß George Lopez in einem Konzert, dessen Programm sich aus vielen kurzen Stücken eines Komponisten zusammensetzte. Es war eine umfangreiche Auswahl aus dem Gesamtwerk des Kollegen, und es hätte sich dessen musikalischer Kosmos abzeichnen können – wäre er nicht zerbröselt zwischen Publikumsapplaus und Musikerverbeugung nach jedem einzelnen Stück. Die fragile Innenwelt der Musik prallte permanent am Kunst-Gegen-Beifall-Tauschgeschäft ab. Lopez schauderte: Ein besonders abschreckendes Beispiel für kunstfeindliche Auswirkungen des gängigen (europäischen) Konzertrituals.

Gegen dieses Ritual erhebt die Musik Lopez' immer lauteren Einspruch. Einspruch melden generell Lopez' Inspirationsquellen an: mächtige Landschaften, durch die er wochenlang wandert und die Musik in ihm wachrufen, in der anderes als die "natürliche Harmonie" widerklingt; seine Natur – endlose Steppen, dichte Urwälder, schroffe Berghänge, klirrendkalte Schneefelder – verweigert sich der Zivilisation, und genauso klingt seine Musik, etwa Breath – Hammer – Lightning (1989-91): als wolle sie ihre Zuhörer verjagen.

Selbst wenn Lopez seine Zuhörer die Erhabenheit eines Tempels inmitten einer Berghöhle fühlen lassen will, erspart er ihnen nicht die bangen Augenblicke eines Tastenden im Finstern. Dome Peak, ein 1991-93 komponiertes Raumstück im verdunkelten Zuschauerraum (wieder so ein Einspruch), bezeichnete Lopez bislang als sein Hauptwerk, und von diesem führt eine direkte Linie zu Schatten vergessener Ahnen, das 1994-96 für Wien modern entstand.

Die halbstündige Komposition beginnt wie ein Konzert für jene drei Klaviere, die der Zuschauer neben den Schlagzeugern und dem, was die Partitur als "conductor" bezeichnet, auf der Bühne zu sehen bekommt. (Das musikalische Material der drei Klaviere ist aus Breath – Hammer – Lightning gewonnen.)

Anfangs führen die Klaviere; das Ensemble, das die Zuhörer umgibt wie das Orchester in Dome Peak, fächert den Klavierklang nur auf. Wie immer hat sich Lopez am Anfang für ein tiefes Klangbild entschieden: schwarze Musik, angesiedelt weder im Himmel, wo Musik herkommen soll, noch bei den Menschen, die sie machen, sondern unter ihnen, in der Materie, auf der sie stehen, im Dreck – aber auch neben den Wurzeln.

Die Tiefe tönt aus den Ecken des Konzertraumes: Dort sind die strukturell entscheidenden Kontrabassinstrumente positioniert. Auch sonst ist der Kreis der Solisten um das Publikum – er wird sich nach zwei bis drei Minuten zu einem ersten Tutti schließen – reich an Querverbindungen. Über die Zuschauer legt sich so ein akustisches Netz, da gerade die (schräg) gegenüberliegenden Instrumente einander zuspielen.

Diese Ordnung der Klangquellen, nicht nur der Raumaspekt an sich, ist aus Dome Peak abgeleitet. Was dort aber Erhabenheit ausdrücken sollte, geht hier auf Krücken. Die Instrumente haben Eigensinn, intonieren individuelle Linien, die der "conductor" im Zentralton dis zu bündeln sich abmüht. (Gemeinsam mit dem alternativen Zentralton a stellt jenes dis ein "strukturelles Zitat" aus dem Finale von Sibelius' IV. Symphonie dar.) Ein brüchiger Gesamtklang ist die Folge: gleichsam der Tempel aus Dome Peak mit Granateinschüssen.

Schatten vergessener Ahnen steht dem Hauptwerk komplementär gegenüber – und ist fraglos näher an der Gegenwart. In einem der 349 Takte – es ist der 267. – befreit sich das Ensemble in reiner Anarchie. Als Erwiderung auf eine Phase bedrohlichen, nur den "conductor" befriedigenden Gleichschrittes, wird plötzlich das gesamte Stück (krebsgängig) in einen einzigen Takt gepresst. Die fulminante Wirkung dieses Zeitraffers sich vorzustellen, hat man 266 Takte lang Zeit.

Schatten vergessener Ahnen erzählt eine Geschichte: Die "Aktion" (wie das Werk im Untertitel heißt) führt in die fremde Welt der eigenen Mütter und Väter. In den sich tief in die Erde bohrenden Wurzeln unserer Stammbäume lauern Mythen und Riten, die wir in uns umhertragen: tausendfach verwandelt, kaum wiederzuerkennen und oft nicht bewusst. Die sie uns überliefert haben, vergessene Ahnen, bringen sich in Lopez' Komposition wie böse Geister in Erinnerung.

Sie führen drei Schläge mit dem Hammer, und wie in Mahlers VI. Symphonie fällt der dritte den "Helden". Gäbe dieser seine Identität preis, wäre die Liturgie entzaubert; also muss er sterben. So ist Schatten vergessener Ahnen nicht nur ein Einspruch des Komponisten gegen das Korsett des Konzertrituals, sondern auch eine Aufforderung, im Erleben von Kunst zivilisatorische Schranken niederzureißen; europäische, historische und kulturelle Grenzen zu überschreiten. Dies ist nur eine Partitur. Doch sie will etwas zurückgeben: dem Klang die Geschichte, dem Konzert die Magie, dem Zuschauer das Erleben.

Ihrer Inszenierung stellt Nina Kurzeja folgendes Zitat voran:
"(....) Die Gefahr ist eine sehr schwerwiegende. Denn hängt der Lauf der Natur von dem Leben des Menschengottes ab, welche Katastrophen können nicht aus der allmählichen Abnahme seiner Kräfte und deren endgültigem Erlöschen mit dem Tode entstehen? Es gibt nur einen Weg, diese Gefahren abzuwenden. Der Menschengott muss getötet werden, sobald bei ihm Anzeichen auftreten, dass seine Kräfte zu schwinden beginnen, und seine Seele muss einem starken Nachfolger übertragen werden, bevor sie noch durch den drohenden Verfall ernstlich geschädigt wurde."

Text aus "Der goldene Zweig" von James George Frazer

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Autor/in
Christoph Becher