Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "petit-lait"

Stand
Autor/in
Paul Schwer

Der Abstieg in den Keller unter der Hofbibliothek führt über einen axialen Flur in vier gleichgroße leere Räume. Mit ihren dicken Mauern, Stützpfeilern, ihrem feuchtbröckelndem Putz und dem Licht nackter Glühbirnen an der hohen Decke des Tonnengewölbes lösen sie sofort Erinnerungen aus und sorgen für lebhafte Assoziationen. Wie in einem Traum hat man das Gefühl einer Situation völliger Abwesenheit von Außenreizen.

Paul Schwer: PETIT-LAIT
Paul Schwer: PETIT-LAIT

Zeitlos lässt der Keller das Hier und Jetzt unmittelbar vergessen und enthält als ehemaliges Bierlager, Luftschutzkeller und Kunstort doch geschichtete Zeit. Mittels Malerei im weitesten Sinne sollen durch eine Licht- und Farbinstallation zeitliche und räumliche Vorgänge, Gesehenes und Erinnertes komprimiert und miteinander verwoben, erfahrbar werden.

In den vier Räumen und dem Flur entstehen vier unterschiedliche Arbeiten, die jedoch untereinander verbunden sich gegenseitig unterstützen oder bedingen und als Teil eines "Gesamtbildes" zu sehen sind. Im ersten Raum liegen lose verteilt etwa zwanzig schwarze, zur Decke gerichtete Baustrahler auf dem Ziegelsteinboden. Verschieden große, quadratische, mit Buttermilch und Pigmenten bemalte Glasplatten bilden – auf die Strahler gelegt und sich verzweigend – einen zweiten Boden. Das Gewölbe wird farbig illuminiert und in zufälligen, großen zeitlichen Abständen zerspringen einzelne Platten durch die Hitze der Strahler. Dieser Vorgang soll sich über die gesamte Dauer der Musiktage erstrecken. Durch den thermischen Vorgang erfolgt eine Spannung in der Struktur des Glases, die sich mit einem lauten Knall im Brechen der Scheibe in unterschiedlichen Formen von kleinstteiliger Zersplitterung bis zu großen, irregulär geformten Stücken entlädt. Bei diesem plastischen Prozess bleibt die äußere Form des Quadrates erhalten. Akustisch entsteht im Gewölbe ein gelenkt zufälliger, unregelmäßiger "Rhythmus" in langen Zeitintervallen.

Den diagonal gegenüberliegenden zweiten Raum durchqueren vier Baustützen in ca. 180 cm Höhe und bilden einen horizontalen Rahmen. Etwa zehn transparent einfarbig bemalte und zum Teil spiegelnde 2 x 1 m große Glasscheiben werden von außen dagegen gelehnt und begrenzen ein begehbares "Gehäuse".

Drei Diakarusselprojektoren werfen in unterschiedlicher Geschwindigkeit aus verschiedenen Positionen von außen drei Bildfolgen auf die Glasplatten. "Aktuelle Straßenszenen" aus Donaueschingen, Aufnahmen von LKWs als flüchtige Farbfeldkörper von der Autobahn und Ansichten aus dem Innenraum eines Cafés in Donaueschingen werden auf den Gläsern und den Wänden abgebildet, gespiegelt oder durchdringen sich gegenseitig und bilden eine sich ständig verändernde Raumcollage. Aktuell Geschehenes, biographisch Erinnertes verdichtet sich zu einem Bild, das der Betrachter durchschreitet, wobei er sowohl als Projektionsfläche als auch als Schattenwurf beteiligt ist.

Die Vielschichtigkeit der Bilder lässt an eine Simulation des Platonschen Höhlengleichnisses denken, bei dem am Beispiel der Höhle und der dort projizierten Schattenbilder Realität und Einbildung untersucht werden.* Traumgleich werden Innen- und Außenraum, Café und Autobahn, Erinnerung** und gegenwärtige Bilder miteinander verwoben, was von Freud als Verschiebung und Verdichtung für den Prozess der Traumarbeit beschrieben wird.*** Das Klacken der Diaprojektoren in drei verschiedenen, sich überlagernden Geschwindigkeiten bildet einen weiteren, im ganzen Keller hörbaren Rhythmus.

Der dritte Raum bleibt leer. Durch die offene Verbindung zu Raum zwei soll aber ein Ausschnitt einer Projektion als ständig wechselndes Licht- und Farbsegment auf Boden und Wand fallen.

Im letzten Raum liegt dezentral eine große, zerknüllte Papierform – aus einer transparenten, mit Pinselspuren bemalten steifen Folie. Wie ein überdimensioniertes Bonbonpapier in die Ecke geworfen, dient es als Projektionsfläche für ein sich nicht änderndes Dia, das sich dadurch als Bild aufgesplittert und "abstrakt" im Raum verflüchtigt.

Wie die Musiktage selber hat die Licht- und Farbinstallation petit-lait einen vorübergehenden, offenen Charakter. Nichts ist fest und stabil konstruiert. Die Glasplatten sind gelegt, auf Halogenstrahlern ausbalanciert. Das Gerüst für das begehbare Projektionsgehäuse besteht aus Baustützen. Die Glaswände verbreiten gelehnt, transparent oder spiegelnd die Farbe im Raum, werden zum Projektionsträger von Dias mit Motiven der Erinnerung und der Flüchtigkeit, sie brechen die Projektion oder lassen sie einfach passieren. Die Mittel der Malerei werden befragt und fast vollständig aufgelöst. Der Farbduktus ist lapidar, die Pigmente haften mit Buttermilch (= petit-lait) als Bindemittel nur vorübergehend, wie ein Hauch auf beschlagenen Scheiben****.

Zeit findet sich nicht nur in den Motiven, sondern auch im Rhythmus des Wechsels der Bilder und extrem verdichtet im Zerbersten der Glasplatten. Der ständig ändernde Eindruck von flüchtigen Bildern und Erlebnissen, der sich unsere Gegenwart bestimmt, wird in fragile, dem Augenblick nahe Anordnungen übertragen. Unter dem massiven Mauerwerk des Kellergewölbes installiert, verdichten sich die Licht- und Farbräume zu Empfindungsräumen (Max Imdahl), werden Bildcollagen zu Fragmenten der Erinnerung. Farbe – meist als farbige Abstrahlung in den Raum – lädt diesen auratisch auf, ist als "Klang" physisch spürbar. Das Bedürfnis des medialen Blicks nach ständiger Veränderung in der Gegenwart ist aber nicht ausgeschlossen, der auratische Bildbegriff bleibt entzaubert.


* Colin Gardner, "Deconstructing the scene / seen, Memory apparatus and subjectivity in Rachel Khedoori's film Installation." Katalog "Rachel Khedoori", Kunsthalle Basel, 45 / 2001
** Der gezeigte Innenraum des Cafés war in meiner Kindheit eine wichtige Etappe bei sonntäglichen Fahrten ins Blaue.
*** Hinweis Johannes Döser, Essen
**** Katja Blomberg in "Farbfall", Rede zur Eröffnung der Ausstellung im Kunsthaus Essen, 2000

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Paul Schwer