Donaueschinger Musiktage 2003 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2003: "Blue Poles"

Stand
Autor/in
Daniel Ender

Undurchdringliche Klangwelten in kontinuierlichem Wandel

Die Dialektik zwischen "Ereignis" und "Hintergrund", die Beziehungen und Wechselwirkungen von Abläufen in mehreren Schichten sind für die Kompositionen von Reinhard Fuchs konstitutiv. Konzeptueller Ausgangspunkt für sein neuestes Werk, Blue poles für großes Ensemble, war Jackson Pollocks gleichnamiges, 1952 entstandenes Bild, an dem sich treffende Analogien zur für Fuchs fruchtbar werdenden Ästhetik, aber auch zur konkreten Gestalt seiner Musik aufzeigen lassen.

Immanente Dynamik geronnener Energien

Pollock hatte ab der Mitte des 20. Jahrhunderts mit seinen "Drip Paintings" (Tropfbildern) weltweite Aufmerksamkeit erregt und auch Komponisten, darunter John Cage, Morton Feldman und ihr New Yorker Kreis, nachhaltig inspiriert. Indem er flüssige Farbe direkt auf eine auf dem Boden liegende Leinwand tropfen ließ, während er akrobatische, dabei höchst differenzierte Bewegungen vollführte, erzeugte er dichte Geflechte aus einander überlagernden oder durchdringenden geschwungenen Linien. Die geronnenen Energien der Malaktionen verleihen diesen labyrinthartigen Vernetzungen eine immanente Dynamik; die vielfachen Überlagerungen der Farbfäden – meist über mehrere Wochen gewachsen – eine die Zweidimensionalität sprengende Tiefenwirkung.

Reinhard Fuchs: Partitur von Blue Poles
Partitur von Blue Poles

In Blue poles treten nun zu einem solchen Gewirr aus zarten Linien massivere vertikale blaue "Pole". In der letzten von zahlreichen Arbeitsphasen aufgetragen, setzen sie gewichtige Kontrapunkte gegenüber dem filigranen, richtungslos wirkenden Untergrund und geben so dem Auge einen gewissen Halt – einen Halt freilich, der stets durch die kleinteiligen Bewegungen gefährdet bleibt.

Wanderung durch und Wandlung von Schichten

Vergleichbare Spannungen zwischen Ereignissen im Vordergrund, die stärker Aufmerksamkeit erregen, und mehr atmosphärisch als energetisch wirkenden Ebenen mit (scheinbar) untergeordneten Verläufen bilden Motor und Reiz von Fuchs Musik. In überbordend reicher Faktur lässt sich dabei häufig ein Austausch der Mittel zwischen den Schichten feststellen oder – bei einem ersten Höreindruck – wenigstens erahnen. So kann eine Gestalt aus dem Vordergrund bei der variierten Wiederkehr eines Abschnitts – kaum noch als sie selbst wahrnehmbar – im Hintergrund erscheinen und dabei als farbliche Nuance doch den Eindruck von Bekanntheit evozieren – und umgekehrt: "In meiner bunt schimmernden, von Schichtenstrukturen und Übermalungen geprägten Musik formen strukturell gebundene Gedanken einmal den Hintergrund und stellen eine farbliche Tiefenschicht zur Verfügung, um später an die Oberfläche zu dringen, um also bewusst gehört zu werden. Die hierarchisch funktionierende Wahrnehmung konzentriert sich auf den Vordergrund und zielt auf klar zu erfassende Zusammenhänge ab; im Hintergrund spielt sich aber häufig das für mich eigentlich Spannende ab."

Dass solcherart übercodierte Partituren nur bedingt in ihrer Ganzheit hörend erfasst werden können, ist Fuchs selbstverständlich durchaus bewusst. Ein gewisser Anteil an,Überinformation` scheint durchaus kalkuliert zu sein: Er wolle, sagt der Komponist, "eine Textur schaffen, die sich aus mehreren gleichermaßen wirksamen Schichten zusammensetzt und so eine gewisse Räumlichkeit und Tiefe schafft, eine Textur, die sich in ihrem Reichtum an Information als schier undurchdringliche Klangwelt offenbart, die aufgrund ihrer Fülle nie als Ganzes wahrgenommen werden kann".

Universale Übermalungstechnik

Zur Versinnbildlichung des Eigenlebens der Schichten in seiner Musik und deren Bezüge untereinander beruft sich Fuchs auf das Modell des Palimpsests – wie es seit Iannis Xenakis Komposition gleichen Titels aus dem Jahr 1979 zahlreiche Komponistenkollegen getan haben: Das mittelalterliche Pergamentstück, dessen ursprünglicher Text abgeschabt wurde und einem neuen Platz gemacht hat, aber mitunter noch durchschimmert, hat sich ja auch als umfassend geeignete Metapher für Kulturpraktiken im allgemeinen wie für künstlerische Bezugnahmen, Transformationen und Rückgriffe im besonderen erwiesen. Wie für viele ist auch für Fuchs das Prinzip des Übermalens zentral, doch erweitert er dieses zu universaler Anwendbarkeit: Nicht nur werden abgeschlossene Werke auf die Möglichkeiten ihres Materials hin neu befragt und innerhalb eines Stückes einzelne Abschnitte oder Formteile palimpsestartig aufeinander bezogen, die Technik erstreckt sich auch von den ersten Skizzen und Entwürfen bis zu den vorläufigen und endgültigen Fassungen der Partituren.

Seine Vorgehensweise beschreibt Fuchs als dynamisch und genuin prozesshaft. Nach der Entwicklung einer bestimmten Vorstellung und deren Notation setzt eine Reflexion ein, die an jedem Punkt des Schaffensprozesses das Erarbeitete wieder zu einem Ausgangspunkt für Neues machen kann: "Die ursprüngliche Vorstellung tritt in eine spannungsgeladene Reaktion mit dem notierten Ereignis. Vorstellung und Resultat interagieren miteinander und schaffen so neue Möglichkeiten. Die Notation ist nur ein vorläufiger Endpunkt einer im Kopf stattfindenden klanglichen Reise."

"wie von Geisterhand geführt"

Diese Transformationen sind innerhalb ein und desselben Werkes allerdings nur potenziell unendlich – zu stark entwickeln manche Gestalten formbildende Kraft. Obwohl die gesamte bisherige Musik von Reinhard Fuchs von kleinteiligen Zellen geformt ist, gerinnen ihm diese zunehmend zu großformalen Verläufen. So finden sich nun reprisenartige Formverhältnisse. Blue poles hat sich sogar zu einer fast schon klassischen Dreiteiligkeit hin entwickelt: In einem sehr schnell und leise gehaltenen, von Linien durchzogenen A-Teil wird dessen dichte, gewebeartige Textur immer wieder von markanten "Gegen-Polen" aufgebrochen; nach einem ruhigeren kurzen mittleren Abschnitt weist der Schlussteil zunächst ähnliche Gestalten auf, die zwar wesentlich kräftiger instrumentiert, aber als deutlicher Bezug auf den Beginn erkennbar sind, ehe die ursprüngliche Textur in zunehmendem Maße und dann bis zur Unkenntlichkeit verändert wird: "vergleichbar riesigen Vogelschwärmen, deren äußere Form sich – scheinbar wie von Geisterhand geführt – immer neue, sich kontinuierlich wandelnde morphologische Konstellationen sucht."

Stand
Autor/in
Daniel Ender