Musikalische Symbiosen
Ungeahnte Fusionen bei der SWR NOWJazz Session
Manchmal kommt es anders, als man plant: Eigentlich hätte die diesjährige SWR NOWJazz Session in Donaueschingen demonstrieren sollen, dass Elektronik auch ganz anders in den Jazz integriert werden kann als im vergangenen Jahr von Wolfgang Mitterer, der durch ein hoch elaboriertes Computersample seinen beiden Stücken Radio Fractal und Beat Music klar vorgezeichnete formale Strukturen verleiht. Der britische Saxophonist Evan Parker und sein renommiertes Electro-Acoustic Ensemble schienen die geeignete Gruppe für das Gegenmodell: Denn im Kontrast zu Mitterers Konzept basierten die bisherigen Auftritte des britisch-italienischen Ensembles weder auf dominierenden Samples, noch stützten sie sich hauptsächlich auf solistisch spie-lende Elektronik-Musiker. Vielmehr ist das so genannte "Signal Processing" bestimmend für Parkers Gruppe: die elektronische Umformung hier und jetzt gespielter instrumentaler Klänge in Echtzeit oder genauer gesagt: in nur wenigen Millisekunden, die das Ohr nicht mehr als Zeitverzögerung wahrnehmen kann. Ein live-elektronisches Konzept, das in der komponierten Musik in ähnlicher Weise vor allem durch die Musik Luigi Nonos bekannt geworden ist.
Um so größer war meine Überraschung, als ich vor einigen Monaten von Evan Parker, der für seinen Kompositionsauftrag naturgemäß völlig freie Hand erhielt, erfuhr, dass er in sein Electro-Acoustic Ensemble das Duo Furt zu integrieren gedenke, das aus den beiden britischen Komponisten Richard Barrett und Paul Obermayer besteht, die seit nahezu zwei Jahrzehnten auch als Elektronik-Solisten auftreten, mit Notebooks und vorbereiteten Samples. Die ursprüngliche Intention war somit zwar dahin, doch ohne dies zu wissen, erfüllte Parker mit dem Engagement von Furt einen anderen programmatischen Wunsch: die erstaunliche Nähe zu demonstrieren, in der sich die experimentelle Improvisationsmusik derzeit zur neuen elektronischen und zur komponierten Musik befindet.
Dass sich Evan Parker in jüngster Zeit immer wieder auf gewagte Grenzgänge begibt, verwundert nicht. Wer sich wie der 1944 in Bristol geborene Saxophonist so stark auf eine Musik beruft, die ihre Kraft aus dem Hier-und-Jetzt erhält, aus dem expliziten Bezug zu den soziokulturellen Bedingungen der Zeit ihrer Entstehung, der musste notwendig die gegenwärtigen Verschiebungen in der Musikwelt in sein Schaf-fen aufnehmen: die sukzessive Aufhebung der einst festgefahrenen Grenzen zwischen Komposition und Improvisation, zwischen "E-Musik" und "U-Musik". "The flow of time and the meaning of sound in time seem to require that each piece of music should be unique and should at least in part reflect the particular social and historical context for which it is made", so hatte Parker einmal sein geschichtsbewusstes Musikverständnis beschrieben. Kein Wunder, dass der stets auf den Ausbau der klanglichen Möglichkeiten seines Instruments bedachte Saxophonist bereits Anfang der neunziger Jahre mit neuen elektronischen Techniken zu experimentieren begann, kein Wunder, dass sein musikalischer Horizont weit über einen engstirnigen Jazzbegriff hinausgeht, um sich Anregungen aus der komponierten oder auch aus außereuropäischer Musik zu holen.
Der konkrete Anlass zur Integration von Furt rührt aber auch aus der Biologie. Das mag auf den ersten Blick überraschen, doch studierte Parker Anfang der sechziger Jahre, nachdem er bei James Knott gerade seine ersten Lektionen am Altsaxophon erhalten hatte, in Birmingham zunächst Botanik. Daher stammt auch sein Interesse an den Theorien der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis. "'SET' for Lynn Margulis", so der Titel seiner Komposition für Donaueschingen 2003, nimmt Bezug auf die "Serial Endosymbiosis Theory" (serielle Symbiontentheorie, kurz: SET), die Margulis zu einem radikal anderen Evolutionskonzept führte als dem herkömmlichen darwinistischen. Die Urform allen differenzierten Lebens, so die zentrale These in Margulis' Buch "Sym-biotic Planet" ("Die andere Evolution"), sei in eukaryotischen Bakterienstämmen zu suchen, also in kleinsten Lebewesen mit kernhaltigen Zellen, die sich im Laufe der Erdgeschichte immer weiter entwickelt haben: beginnend durch Symbiose mit anderen Eukarya. Die Symbiogenese, so schreibt Margulis, vereint verschiedenartige Individuen zu großen, komplexeren Gebilden. So entstandene Lebensformen sind sogar noch andersartiger als ihre ungleichen 'Eltern'. Ständig verschmelzen 'Individuen' und passen ihre Fortpflanzung an. Sie bringen neue Populationen hervor, die zu symbiontischen neuen Wesen aus vielen Einzelelementen werden. Diese wiederum organisieren sich auf einer höheren, umfassenderen Integrationsebene zu neuen Individuen. Die radikale Konsequenz aus dieser biologischen Beobachtung, mit der die Hegelsche Entwicklungslogik eine späte naturwissenschaftliche Legitimation zu erhalten scheint, lautet: dass die Zellen der Pflanzen und unseres eigenen, tierischen Körpers (aber auch die der Pilze und aller anderen Lebewesen, die aus Zellen mit einem Zellkern bestehen) durch eine ganz bestimmte Abfolge von Verschmelzungen unterschiedlicher Bakterienarten entstanden waren. Womit nicht nur die herkömmlichen Entstehungstheorien, sondern auch die auf Aristoteles zurückgehende Einteilung der Arten problematisch würde: Ist mensch-liches Leben in der Tat durch die fortschreitende Symbiogenese ursprünglicher Bakterienkulturen entstanden so wie tierisches und pflanzliches Leben, so hielte auch die Trennlinie zwischen Flora und Fauna nicht länger stand.
Was Evan Parker an Margulis' Konzept beeindruckte, war vor allem der Weit-blick: "The great flash of insight underpinning Lynn Margulis' 'Serial Endosymbiosis The-ory' derived from looking at electron micrographs of intra-cellular structures such as chloroplasts and mitochondria and seeing that they shared much in common with bacteria and bacterial anatomical elements such as cilia. The basic information was available to thousands of biologists in the early sixties and even to me as a failing biology student rapidly becoming a full time saxophonist. Lynn Margulis saw it. Such an insight and such a patient body of research to support it in the intervening period!"
Was Parker zweifellos auch an dieser Theorie faszinierte, ist jenes konstatierte Miteinander des Verschiedenen, das in der Verschmelzung zu einem völlig neuen Organismus wird. Ähnliches lässt sich derzeit auch in der experimentellen Musikszene beobachten, in der Komponisten zu Improvisatoren, Improvisatoren zu Elektronikern und Elektroniker zu Komponisten im lateinischen Sinn des Wortes werden: indem sie Klänge auf ihren Notebooks neu zusammensetzen. Eine musikalische Entsprechung zu Margulis' naturwissenschaftlicher Theorie kann dennoch nur ex analogia erfolgen. Genau betrach-tet setzt sich Parkers Donaueschinger Ensemble aus drei unterschiedlichen Mikro-Organismen zusammen: Da ist einmal sein rein instrumentales Trio mit dem Bassisten Barry Guy und dem Schlagzeuger Paul Lytton, eine Formation, die seit Anfang der achtziger Jahre besteht und wohl zu den am besten aufeinander eingespielten Gruppen der freien Improvisationsszene zu zählen ist. Die unbändige Energie, die von Lytton ausgeht, der neben dem traditionellen Schlagzeug ein schier unerschöpfliches Reservoir an Perkussionsinstrumenten spielt, paart sich mit Parkers von endlosem Circular breathing und hochkomplexen Multiphonics bestimmtem Saxophonspiel auf geradezu symbiotische Weise. Dazu gesellt sich der hoch kreative Spielwitz des gelegentlich auch Barockmusik interpretierenden Barry Guy, der mit seinem klangvollen Kontrabassspiel immer wieder erstaunliche Akzente zu setzen weiß.
Den zweiten Mikro-Organismus bilden die hinzukommenden Musiker des Electro-Acoustic Ensemble: die beiden Italiener Walter Prati, der erste, mit dem Parker Anfang der neunziger Jahre im Duo elektronische Musik gespielt hatte, und Marco Vecchi, der für die Klangbalance der Live-Elektronik sorgt, sowie Lawrence Casserley, der über eine digitale IRCAM-Workstation und ein großes Mischpult verfügt, um den ohnehin schon komplexen Sound Parkers elektronisch noch einmal zu verdichten. Der dritte musikalische Organismus ist eben Furt.
Dieses Duo, dessen Titel Furt eigentlich aufgrund eines Schreibfehlers des deutschen Worts Furie entstanden war, bildet den eigentlichen Fremdkörper innerhalb dieser drei Formationen, "which by processes equivalent to symbiosis evolve into a higher 'organism', the piece that is 'SET'."
Eine banale Programmmusik ist von Evan Parker gewiss nicht zu erwarten, eher eine Lösung auf abstrakter Ebene, worin er sich vor allem mit Richard Barrett bestens trifft: Der 1959 geborene Walliser ist vor allem für seine klangarchitektonisch aufgebauten Kompositionen bekannt, unter denen sich auch einige 'Instrumentale Theater' finden. Nicht zufällig, denn explizit theatrale Gesten sind der stark auf klangliche Prozesse konzentrierten Musik Barretts stets einkomponiert. Mit dem gleichfalls aus Großbritannien stammenden Paul Obermayer fand sich Barrett Mitte der achtziger Jahre zusammen, zunächst mit dem Wunsch, die vorgezeichneten Bahnen des Komponierens zeitweilig zu verlassen durch instrumentale Improvisationen, die allmählich zu rein elektronischen mutierten. Obermayer, der gleichfalls komponiert, spielt seit Anfang der neunziger Jahre auch in dem Trio "Bark", das instrumentale und elektronische Klänge miteinander verknüpft. Die Szenen vermischen sich: Auf einer seiner CDs, "Defekt", flicht das Duo "Furt" zu eigenen elektronischen Samples auch Motive von Schubert, Wagner, Strauss und Ives ein. Meist nicht als wörtliche Zitate, sondern als unterschwellige Allusionen, die nur Versatzstücke verwenden.
Ähnlich könnte sich nach Evan Parker auch die Fusion der drei Gruppen vollziehen: "The processes in the piece could be seen as analogous to the fusions, elisions and replications at work at the micro structural level." Nach "Toward the Margins", "Drawn Inward" und dem im vergangenen Jahr in Oslo und in Huddersfield uraufgeführten "memory - vision", das sich auf die elektronische Reflexion verklingender instrumentaler Klänge konzentriert, geht Parkers Electro-Acoustic Ensemble nun also einem neuen Klangexperiment entgegen.
Reinhard Kager
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