Das Universum besteht nach Berechnungen von Astronomen zu mehr als 95% aus uns unbekannter "dunkler" Materie und Energie. Dunkle Materie scheint nicht messbar zu sein, weil sie nicht mit der Materie, die wir kennen, reagiert. Die Physiker rätseln, weil sich diese Form von Materie bis jetzt jedem Begriff entzieht. Sie können feststellen, was sie nicht ist, aber nicht, was sie ist.
"Wenn man auf einer Lichtwelle reitet,
was steht dann still, das Licht oder die Zeit?"
Diese Frage hat sich Albert Einstein als Jugendlicher gestellt und er hat wohl schon geahnt, dass es die Zeit ist, die bei Lichtgeschwindigkeit stillsteht. Sein Lebenswerk ist eine Art Antwort darauf.
Es ist faszinierend, dass es immer wieder Epochen in der Geistesgeschichte gab und gibt, in denen die Wissenschaftler beim Versuch, für sie unbegreifliche Dinge zu begreifen, spekulativ Wahrheiten fanden. Schon in der Antike formulierten Menschen Ideen, die zu ihrer Zeit nicht zu beweisen waren. Herausragend waren da die Naturphilosophen Griechenlands vor Sokrates. Das Staunen der Wissenschaft über das Unfassbare ist nicht weit entfernt vom künstlerisch suchenden Blick.
Dunkelheit ist die Ausgangssituation für eine kreative Erneuerung, nicht nur im Bereich der Kunst, sondern auch bei Wissenschaft und Philosophie. Der erste Schritt ins Dunkle lässt Dinge erahnen, die außerhalb des Wissenshorizontes liegen. In dieser Situation blitzen Wahrheiten auf, die zumeist verblassen, wenn Menschen sie in ihre bereits aufgebauten Gedankengebäude einzupassen versuchen.
[Anaximander]
Der Mensch ist aus einer Art Fisch hervorgegangen, er ist viel später als die anderen Lebewesen entstanden.
[Platon]
Der Mensch ist das höchste unter den Lebewesen und war da, vom ersten Anfang an; die übrigen Arten entstanden aus ihm durch Zerfall und Degeneration. Zunächst entarten manche Männer – die Feiglinge und Bösewichter; aus ihnen werden Weiber. Von jenen die Dümmsten entarten ebenfalls und verwandeln sich Schritt für Schritt in niedere Tiere. Vögel entstehen aus harmlosen, leichtlebigen Menschen, Landtiere entstehen aus denen, die sich nicht für Philosophie interessieren. Fische, Schellfisch eingeschlossen, entstehen aus den Allerdümmsten und Unverständigsten, aus Menschen der äußersten Unwissenheit.
Anaximander (ca. 610 – 550 vor Chr.) war einer der ersten der Naturphilosophen Griechenlands vor Sokrates, deren Gedanken eine tragende Rolle in meinem Stück spielen. Er hat hier die Gedanken Darwins vorweggenommen, während Platon mit ideologischem Hintergrund falsche Zusammenhänge konstruierte, immer mit dem Wunsch, seinem riesigen Gedankengebäude Geschlossenheit zu verleihen. Mein Protagonist ist hier Anaximander; er ist wie ein Künstler, der sich dem Nichtwissen und dem Nicht-beherrschen-können aussetzt, um mit feinen Sensoren am Ende des dunklen Raumes intuitiv etwas zu erkennen.
Nun ging es mir in meiner Komposition nicht darum, das Richtige gegen das Falsche zu verteidigen. Ich wollte vielmehr die Situation des Dunklen, in dem Etwas verborgen sein kann, heraufbeschwören. Es ist die Suche selbst, die ich zeigen möchte. Ich bin selbst ein Suchender, wenn ich Musik schreibe, und versuche, das Regelwerk in mir zu erkennen, nicht um es zu befolgen, sondern um es zu überwinden.
Gleichzeitig sprechen in meinem Stück Suchende, neben Anaximander sind dies andere Vorsokratiker (Anaximenes, Anaxagoras, Heraklit, Empedokles, Xenophanes und die Phytagoräer), aber auch Lukrez, Novalis und Albert Einstein. Diesen Protagonisten sind einige Gegenspieler gegenübergestellt, neben Platon sind dies vor allem Hippokrates, Aristoteles und Thomas von Kempen.
Novalis nimmt eine Schlüsselrolle in meinem Stück ein.
"Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren –
das Hörbare am Unhörbaren –
das Fühlbare am Unfühlbaren.
Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren.
Der Geisterwelt gehört das erste Kapitel in der Physik.
Die Akustik der Seele ist noch ein dunkles Feld aus harmonischen – und
disharmonischen Schwingungen."
Dieses Fragment aus dem Traktat vom Licht und folgender Ausschnitt aus seinen Hymnen an die Nacht sind eine Art Meditation über eine imaginäre Wissenschaft, die das seelische Spiegelbild zur physikalischen Welt untersucht.
"Himmlischer, als jene blitzenden Sterne
dünken uns die unendlichen Augen,
die die Nacht in uns geöffnet."
Als ich mit der Arbeit an meinem Stück begann, habe ich keine konkreten Gestalten von vornherein gesetzt. Ich wollte in einem diffusen Dämmerlicht Dinge erspüren und mich dabei mehr von Intuition als von klaren Gedanken leiten lassen. Ich habe mir vorgestellt, dass sich der Klang des Stückes aus der Dunkelheit heraus erhebt. Wichtig ist hierbei nicht so sehr, ob der reale Konzertraum wirklich dunkel ist, sondern dass der von mir imaginierte Klang Dunkelheit und aufkommendes Licht enthält. Ein klangliches Sinnbild des Nebels ist ein Viertelton-Cluster-Akkord von 32 Flaschen, die von den Sängern angeblasen werden. Der Klang der Flaschen ist beseelte Luft, weit entfernt von kompakter Körperlichkeit. Dieser "Nebel", aus dem ich den Anfang meines Stückes entwickelt habe, ist im weiteren Verlauf latent enthalten, allerdings lassen sich in ihm oft deutliche Konturen erkennen. Mein Skelett des Nebels ist der übermäßige Dreiklang, ein neutraler, umdeutbarer Klang, der das Stück durchweht, und an dem sich phasenweise eine konkretere im Fluss befindliche Harmonik zwischen Clustern und Obertonklängen anlehnt. Naturkräfte greifen in die Entwicklung des Stückes ein; es sind dies zum einen scharfe Luftstöße, Windböen und angedeutete Blitze und auf der anderen Seite ein untergründiges im Kern bedrohliches Raunen, das die Pianistin mit einer Handsirene erzeugt. Wichtig ist mir hierbei, dass die Sirene - obwohl meistens pianissimo eingesetzt - eine solche Kraft auf das klangliche Geschehen ausübt, dass ihre Glissandopartie zum Cantus Firmus eines Gewitter-Dialogs (aus Aristophanes' Komödie Die Wolken) wird.
"STREPSIADES:
Und den Donner, wer macht denn den?
SOKRATES:
Auch hier sinds die Wolken, die donnern, wenn sie sich übereinander rollen. Wenn sie mit Wasser gefüllt sind, reißt sie der Regen auseinander und sie krachen und poltern im Platzen.
STREPSIADES:
da fahr ich halt immer zusammen."
"dunkle Materie" entstand 2005 als Kompositionsauftrag des Südwestrundfunks und des SWR-Vokalensembles. Das Werk ist den Interpreten der Uraufführung, dem SWR-Vokalensemble (Leitung Marcus Creed) und der Pianistin Helena Bugallo, gewidmet.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2005
- Themen in diesem Beitrag
- Caspar Johannes Walter, dunkle Materie für 32-stimmigen Chor und solistisches Klavier