Donaueschinger Musiktage 1998 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1998: "The Long String Instrument"

Stand
Autor/in
Ellen Fullman
Übersetzung
Volker Brezinski (aus dem Amerikanischen)

Die amerikanische Performance-Künstlerin spannt dreißig Meter lange Saiten zwischen die Pferdeboxen in den Gang des Marstalls, die sie gemeinsam mit ihren Musikern abschreitet und durch einfaches Reiben mit den Fingern in Schwingung versetzt.

Die Stimmung der Saiten folgt einem eigenen System, das auf Obertonberechnungen beruht und neben den vertrauten auch ganz ungewöhnliche Harmonien ermöglicht.

Die gigantischen Ausmaße des Instruments bringen dabei den gesamten Raum zum Klingen.

Ellen Fullman über ihr Werk:

Mit dem formalen Hintergrundwissen über visuelle Kunst stellte die Performance für mich eine Brücke zur Musik dar. Mein Interesse an Musik begann mit der Erforschung von Resonanzen von Alltagsgegenständen, welche durch Kontaktmikrofone verstärkt wurden. 1981, damals noch in meinem Kaufhaus Atelier in St. Paul, Minnesota, befestigte ich ein langes Drahtseil an einem Farbtopf, der mit Wasser gefüllt war. Während ich den Behälter schräg stellte, strich ich den Draht mit einem Geigenbogen und lauschte, wie das Wasser im Behälter den Klang veränderte. Eines Tages streifte ich (mit meinem Körper) versehentlich einen langen Draht an einer Stelle, wo Geigenfett aufgetragen war. Das erzeugte einen so überraschenden Klang, daß ich begann, ihn mit meinen Händen zu bespielen. Ich wollte diesen Draht stimmen, aber das stärkere Spannen hatte keinen Einfluß auf die Tonhöhe. Ich zog nach New York City. Mit Hilfe der beiden Ingenieure Bob Bieleki und Steve Cellum lernte ich dort einiges über den longitudinalen Modus von Vibrationen. Der transversale Modus ist der, der herkömmlicherweise bei Streichinstrumenten benutzt wird. Im longitudinalen Modus sind solche extremen Saitenlängen notwendig, um die Tonhöhe in den hörbaren Bereich zu bringen.

Basierend auf dem Obertonspektrum erzeugt The Long String Instrument einen einmaligen, fast orchestralen Klang. Die derzeitige Installation hat ungefähr 100 Saiten, welche in Hüfthöhe auf 30 Meter befestigt sind. Es wird von drei Personen gespielt, die, während sie laufen, mit ihren eingefetteten Fingerspitzen über die Saiten streichen. Eine Spannschraube an jedem Draht dient zum stimmen, indem die Saitenlänge ähnlich wie bei einer Gitarre verändert wird. Das Instrument ist rein gestimmt. Der Bereich umfaßt die Oktave des mittleren C und ist um die untere und obere Oktave erweitert. Die Saiten der Bassoktave erstrecken sich auf die vollständigen 30 Meter des Instrumentes. Die Saiten für die mittleren und hohen Oktaven werden durch zweiseitige Resonatoren unterbrochen, welche die Länge in jeweils 20 und 10 Meter teilt. Durch die (physikalischen) Ausmaße des Instrumentes und die Art, wie die Obertöne mit dem Raum wechselwirken, verwandelt sich der gesamte Raum in ein gigantisches Musikinstrument.

In meiner Musik arbeite ich mit einer Kombination aus systematischem Denken und reiner Intuition. In meiner Notation sind die harmonischen Strukturen klar definiert, während Details der Zusammenhänge und Dynamik durch Probieren erarbeitet werden. Einige Abschnitte sind fest notiert, beispielsweise die Dauer einer Tonhöhe, welche dadurch festgelegt wird, indem die zu laufende Strecke genaustens angegeben wird. Andere Abschnitte sind improvisiert.

Ich bin daran interessiert, die Aufmerksamkeit von den gespielten Grundfrequenzen auf die sich ergebenden Obertöne zu lenken und zu den melodischen Wechselwirkungen, wenn verschiedene Tonhöhen gleichzeitig gespielt werden. Genaue Intonation, ein auf Zahlenverhältnisse gegründetes Stimmsystem, eignet sich gut, um auf dieser dimensionierten Art zuzuhören; weil Obertöne mit reinen intervallischen Beziehungen in geordneter und nachvollziehbarer Weise wechselwirken. Auf diese Art wird der Spieler zum Beobachter eines Phänomens, welches ursprünglich in der Physik auftauchte. Ich betrachte meine Stücke als Landschaften, die sich transformieren. Meine Intention ist es, einen Raum für Zuhörer zu schaffen, um dort in den Stimmungen der verschiedenen Tonhöhenverhältnissen unterzutauchen.

Meine letzte Musik wurde durch ein vierjähriges Studium der nordindischen Vokalmusik in der Kyall Tradition geprägt. Der Schlüssel in A ist der traditionelle Schlüssel für die weibliche Stimme in der indischen Musik. Ich habe das Zentrum der Tonhöhe für das Instrument in Bezug auf meine eigene Stimme von C nach A abgesenkt. Vor kurzem habe ich das Instrument neu mit Messingdraht anstelle von Stahl bespannt, um einen satteren, runderen Klang zu erzielen.

Stand
Autor/in
Ellen Fullman
Übersetzung
Volker Brezinski (aus dem Amerikanischen)