Donaueschinger Musiktage 2017 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2017: "Quartett Nr.2"

Stand

für zwei Violinen, Viola und Violoncello (1963)

Das kompositorische Werk Michael von Biels ist schmal. Im Wesentlichen besteht es aus einem ersten Streichquartett (1962), gefolgt von einem zweiten (1963), der elektronischen Komposition Fassung (1964), dem Quartett mit Begleitung (Quartett Nr. 3, 1967) und dem Jagdstück für Bläserinstrumentalisten und Live-Elektronik (1966). Als Letzteres uraufgeführt wurde, studierte von Biel bereits an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Joseph Beuys und hatte sich der Fluxusbewegung angeschlossen. Für Jahrzehnte war er eine verlorene Figur der Neuen Musik, die sich von der Musik ab- und der bildenden Kunst zugewandt hatte. Schon damals umgab ihn aber auch ein gewisser Mythos. Er galt als einer der radikalsten Vertreter der Neuen Musik, der in der Tat Grenzen verschoben hatte. Es waren vor allem die neuen Spieltechniken seiner beiden Streichquartette, die für große Verblüffung und Verwunderung sorgten. Denn die beiden Streichquartette sind vor allem Geräuschkompositionen. Erstmals wurde konsequent mit erhöhtem Bogendruck und hinter dem Steg gespielt. Der Bogen wird in Diagonalrichtung geführt oder die Bogenspitze schlägt auf den Resonanzkörper. Als das zweite Streichquartett 1963 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt uraufgeführt wurde, war ein solches Werk in der T at unerhört – und erzeugte einen handfesten Skandal. Doch es war auch ein Pionierwerk, das gewissermaßen aus der Sackgasse absoluter Determination oder absoluter Freiheit herausführte, indem es dem komponierten Geräuschklang eine völlig neue Dimension zuwies. Und dies sollte nicht ohne Folgen bleiben. Denn einer der großen Bewunderer von Biels zweitem Streichquartett war Helmut Lachenmann, der damals zu der von ihm dann als "Musique concrete instrumentale" benannten Ästhetik im Aufbruch war. Ohne Zweifel: Im Lichte der musikgeschichtlichen Entwicklung betrachtet, war und ist Lachenmann der bedeutendere Komponist, weil er sich die radikalen Neuerungen von Biels auf konsequente Art und Weise zu eigen machte. Die Stücke, insbesondere die beiden Streichquartette, sind knappe Kompositionen. Der große formale Bogen oder Atem fehlt. Das sollte bei Lachenmanns eigenen Streichquartetten anders sein. Allerdings entstand die erste Musik für Streichquartett von Lachenmann, der Gran Torso, erst rund zehn Jahre später. Dennoch ist es Fleisch von Biels radikalen Experimenten für eine Gattung, die er zugleich gesprengt hatte. Ungewöhnlich war dabei auch schon die Notationsweise des Quartetts, für die von Biel ein neues System erfand. Der größte Teil ist grafisch notiert, vorangesetzt ist ein Verzeichnis der Spielanweisungen. Grundsätzlich sind die Instrumente in ihrem angestammten Klangbild durch die Spielanforderungen verändert. Allein das Violoncello wird mit einem Kontrabassdämpfer präpariert. In diesem Sinne ist von Biels Streichquartett aber nicht nur ein reines Experiment, sondern in einem gewissen Sinne auch eine spirituelle Komposition, ohne auf solche Inhalte zu verweisen. Der Streicherklang wird transzendiert. Dass dabei die Klänge nicht mehr an den üblichen Partien der Instrumente erzeugt werden, verweist letztlich auf die Idee, mit der hier tradiertes europäisches Klangdenken hinter sich gelassen wird. Die temperierte Stimmung spielt keine Rolle mehr. Und auch in diesem Sinne ist von Biels Streichquartett ein Pionierstück, das das vorausdenkt, was bei den nachfolgenden Komponistengenerationen zur vollen Entfaltung kommen sollte.

English

Michael von Biel's compositional output is modest in size. It essentially consists of two string quartets, the first from 1962 and the second from 1963, the electronic composition Fassung (1964), a quartet with accompaniment (String Quartet No. 3, 1967) and Jagdstück for wind instruments and live electronics (1966). When the last of these was premiered, von Biel was already studying with Joseph Beuys at the Düsseldorf Academy of Art and had joined the Fluxus movement. For decades he was one of the lost figures of Introduction to the works New Music, someone who had turned away from music and towards visual art. But there was also a certain mythical aura surrounding him, even then. He was considered one of the most radical exponents of New Music, a composer who had genuinely shifted boundaries. It was above all the new playing techniques in his two string quartets that were met with great wonder and bafflement, as the two quartets are primarily noise compositions. For the first time, the musicians consistently used increased bow pressure and played behind the bridge. The bows are moved diagonally or the tip strikes the instrument body. When the Second String Quartet was premiered at the Darmstadt International Summer Course for New Music in 1963, a work of this kind was indeed unheard-of – and triggered a genuine scandal. But it was also a pioneering work that showed a way out of the dead end of absolute determinacy or absolute freedom by giving a completely new dimension to composed noise effects. And this would not be without consequences, for one of the great admirers of von Biel's Second String Quartet was Helmut Lachenmann, who was embarking at that time on the aesthetic he subsequently called 'musique concrète instrumentale'. There is no doubt that in terms of music-historical development, Lachenmann was and is the more significant composer because he made von Biel's radical innovations his own in a thorough and consistent fashion. Von Biel's pieces, especially the two quartets, are concise works; they lack a larger formal development or scope. This would not be the case in Lachenmann's own string quartets. However, the first music that Lachenmann wrote for string quartet, Gran Torso, was only written some ten years later. But he was working on the foundation laid by von Biel's radical experiments in a genre whose mould he had simultaneously broken. The notation used in the quartet was already unusual, as von Biel invented a new system. Most of the score is in graphic notation, prefaced by a list of performance instructions. By and large, the traditional sonic profile of the instruments is altered through the playing techniques; only the cello is prepared, using a double bass mute. In this sense, however, von Biel's quartet is not purely an experiment but also, in a certain sense, a spiritual composition – though it makes no reference to such notions. The string sound is transcended. The fact that the sounds are no longer produced at the usual places on the instrument ultimately points to the idea that the traditional conception of sound in European music has been left behind. Tempered intonation no longer matters. In this sense too, von Biel's string quartet is a pioneering work that looks ahead to principles that would be developed more fully by subsequent generations of composers.

Stand
Autor/in
SWR