Donaueschinger Musiktage 2004 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2004: "felt/ebb/thus/brink/here/array/telling"

Stand

Catherine Milliken im Gespräch mit Benedict Mason

Catherine Milliken:
Du hast das Stück speziell für die Baar-Sporthalle in Donaueschingen geschrieben. Es gehört zu den vielen Stücken, die du für ganz bestimmte Konzertsäle in Europa und Amerika komponiert hast. Was bringt dich dazu, für Konzertsäle zu schreiben, und wie gehst du an die Komposition heran?

Benedict Mason:
Seit 1993 habe ich eine Reihe von Werken geschrieben, Music for Concert Halls, die die Beziehung zwischen Klang und architektonischem Raum untersuchen, in denen die Musik zu einer Funktion des Gebäudes wird und das Gebäude in den kompositorischen modus operandi einbezogen ist. In meiner Music for Concert Halls wird musikalische Aktivität in drei Dimensionen wahrgenommen: in der Interaktion mit den akustischen Phänomenen des Konzertsaals und in der Ausdehnung weg vom Podium und hinaus aus dem Auditorium in den umgebenden Raum. Die Werke sind als "Konzert-Installationen" konzipiert, nur dass die Zuhörer wie gewohnt ihre Plätze einnehmen und, was wesentlich ist: Das Kunst"objekt" ist live und akustisch und nicht die alte Klanginstallation, die auf Lautsprechern basiert.
Sie sind nicht wirklich ortsgebunden in der Kunstterminologie der alten 1960er Jahre, wie manche Leute uns glauben machen wollen. Sie können in jedem Saal aufgeführt werden. Aber sie sind spezifisch für den einzelnen Saal bei einer bestimmten Aufführung, in dem Sinne, dass jeder ausgewählte Saal es wert ist, mit seinen eigenen Idiosynkrasien und Besonderheiten genutzt zu werden. Der Saal ist ebenso wichtig wie die Spieler und die Komposition.
Ich finde es traurig, dass die Institutionalisierung von Konzertsälen selten eine solche Erforschung der Gebäude zulässt, die man häufig nicht einmal für besonders interessante Orte hält. Konzertsäle sind sehr viel konservativer und restriktiver als Galerien oder Theater, aber mir ist es lieber, wenn diese Stücke im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen einer Konzertsituation aufgeführt werden.

Catherine Milliken:
Worin unterscheiden sich die Stücke von konventionellen Raumkompositionen?

Benedict Mason:
Es geht in diesen Stücken nicht so sehr um räumliche Effekte (Giovanni Gabrieli, Karlheinz Stockhausens Gruppen), wie um akustische Phänomene innerhalb eines bestimmten Raumes und um die Art, in der ein Klang bei seinem realen oder illusionären Gebrauch auf Entfernung, Bewegung, Richtung und Resonanz reagiert.

Ein Beweggrund für diese Stücke ist mein Eindruck, dass Musik ihre Besonderheit verloren hat. Einige dieser Klänge sind sehr ruhig, weil sie an weit entfernten Orten platziert und daher so fern sind, dass man sie praktisch gar nicht aufzeichnen kann. Ich versuche, dem Publikum erneut die Schönheit des reinen Klanges und der Live-Aufführung nahe zu bringen und lade zu intensivem Hören ein, wobei ich in einer Zeit des allgegenwärtigen Lautsprechers und der massenproduzierten Aufnahmen die unübertroffene Feinheit des menschlichen Ohres thematisiere.

Wenn man Musiker mit all diesen wundervollen Räumen zusammenbringt, können sie, was ihre Resonanzen und individuellen Eigenschaften betrifft, zu sich selbst kommen. Objektiv ist jede Akustik von Belang für die Aufführung: jede Entfernung, jede Hörschwelle, Tür etc. ist anders. Das Material des Saals wird selbst als Instrument behandelt. Der Musiker erzeugt einen Klang, und das Gebäude macht das Übrige.

Ausführende, Publikum und Konzertsaal werden als ein miteinander verbundener, räumlicher Organismus betrachtet, noch wichtiger aber ist, dass jeder Hörer eine einzigartige akustische Erfahrung macht. Der synchronisierte Klang von anwesenden, abwesenden und entfernten Musikern wird durch das Publikum hindurch choreografiert und muss über die ausgesuchte Platzierung und Bewegung der Ausführenden verfolgt werden, so dass das Konzert im Hauptauditorium stattfindet und an alternativen Orten wie Foyers, Korridoren, Aufzügen, Treppenhäusern, Stimmzimmern, Garderoben wie auch an außerhalb gelegenen Plätzen wie dem Dach, ja sogar angrenzenden Parks, Gewässern und Straßen. Man könnte also sagen, dass die artifiziellen hierarchischen Strukturen, Übereinkünfte und Anordnungen im traditionellen Konzertsaal infrage gestellt werden.

Catherine Milliken:
Aber diese Stücke sind doch nicht nur rein musikalisch, oder?

Benedict Mason:
Nein, es gibt eigentlich immer einen besonders definierten außermusikalischen oder visuellen Aspekt wie die Bewegung der Musiker, Filmprojektion, Videobildschirme und Beleuchtung innerhalb des Gebäudes. Ich verwende gerne sehr einfache, meist ziemlich dunkle Beleuchtung, und ich wünschte, der Tag hätte genügend Stunden, um mehr zu filmen. Ich habe als Filmemacher begonnen, bevor die Komposition zum Zentrum meiner kreativen Aktivität wurde.

Catherine Milliken:
Um auf unser neues Stück zurückzukommen – warum dieser Titel?

Benedict Mason:
Es sind alles Untertitel aus einem Buch, Outside Sight Unseen and Opened*, in dem ich für Musiker, Nicht-Musiker und Verwaltungsleute über meine Erfahrungen bei dem Versuch, diese Konzertsaal-Stücke zu realisieren, geschrieben habe. Es besteht aus etwa 130 eigenen Texten und Zeichnungen – zum Lesen, Darstellen und sich Vorstellen – über Entfernung, Synchronisation, Bewegung (... und Konzertsäle!). Diese Texte und Zeichnungen bilden auch für den Ausführenden eine kontrollierte, spezifische Form der Notation (wie eine musikalische Anweisung).

Catherine Milliken:
Das Stück ist für 48 Spieler konzipiert, hat zwölf Teile, und jeder Teil verlangt von den Ausführende, entweder Instrumente zu spielen, die du selbst entwickelt hast, oder ihre eigenen Instrumente, die speziell adaptiert worden sind. Worin besteht die Beziehung dieser Instrumentation zu der Komposition des Stückes?

Benedict Mason:
Mit den Instrumenten setze ich meine Untersuchungen für ein Stück fort, das ich 2001 für ASKO im Auftrag des NDR für ein Konzert mit der Uraufführung des Hornkonzerts von Ligeti geschrieben habe. Es hat den Titel the neurons, the tongue, the cochlea the breath, the resonance, und ich habe dafür ein riesiges Instrumentarium ungewöhnlicher, exotischer und erfundener Instrumente entwickelt und ihre Organologie und Akustik untersucht (an der Erforschung der Mikrotonalität mithilfe dieser Instrumente in der Tradition von Partch war ich weniger interessiert). In mancher Hinsicht war es ein Neubeginn, doch bezog er sich auf die akustischen Ideen, auf Untersuchungen bei der Music for Concert Halls. Natürlich gab es Grenzen für das, was ich selbst machen und mit sehr beschränkten finanziellen Mitteln machen lassen konnte. Aber wichtig wurde die Schönheit der extrem ruhigen Musik dieser Instrumente (einige Grade ruhiger als die von Feldman!). Und die Schönheit dieser Ruhe war ihrerseits direkt abhängig von dem Nachdruck, der auf der Ruhe ferner Musiker lag, die an weit entfernten Orten in der Music for Concert Halls spielten.

Hier in felt / ebb / thus / brink / here / array / telling habe ich die Anzahl der unterschiedlichen Instrumente verringert, aber die Anzahl der Ausführenden vergrößert. Und während ich an meiner akustischen Obsession festhalte, habe ich das Klangmaterial auf die einfachsten Objekte und solche, die am effektvollsten klingen, beschränkt, um die reinsten und grundlegendsten akustischen Phänomene zu erforschen; zum Beispiel: Längsvibrationen, Helmholtz-Resonatoren (oder Instrumente mit eigenen, eingebauten Resonatoren), vibrierende Saitenlängen; alle Arten von Obertönen, die physikalischen Eigenschaften verschiedener vibrierender Röhren, Beats, Dopplereffekte, erste Reflektionen und der erste Klang, Nachhallzeiten, Geschwindigkeit von Klang usw. – und eine Menge wird davon oft auch noch auf harmonisch-spektraler Ebene untersucht.

Außerdem ergeben sich aus diesen Instrumenten auch subjektivere, jedoch für mich sehr poetische Phänomene wie Präsenz und Stille. Klang, der aus der Stille geboren ist, kann in der Imagination oder der Realität bestehen, in einem nebulösen Grenzbereich, und in die imaginierte Stille oder den realen oder imaginierten Klang hinein- und wieder hinausgleiten. Entscheidend ist der Augenblick, in dem das nicht mehr imaginiert wird, sondern als Klang registriert zu werden beginnt. Damit wird die Konzentration auf den Wahrnehmungsraum gerichtet, und der Hörer erhält größere Freiheit zu imaginieren, in die Poesie des Klanges einzudringen.

Catherine Milliken:
Aber waren die Instrumente oder die Komposition die eigentliche Inspiration für das Stück?

Benedict Mason:
Letzten Endes immer das zweite. Ich mache mich immer erst an die Komposition, und danach suche ich die Mittel, mit denen ich das musikalisch erfahrbare akustische Ergebnis erreichen kann. So wurden auch alle Instrumente erst nach dem ursprünglichen kompositorischen Obertonkonzept entwickelt. Natürlich ist es die Pflicht des Komponisten (eine Pflicht seit undenklichen Zeiten), für die vorhandenen Instrumente zu schreiben, wobei die fertigen Instrumente einige letzte Einschränkungen erforderlich machten oder aber aufgrund ihres Charmes und ihrer Merkwürdigkeiten zu weiteren musikalischen Überlegungen inspirierten.

Catherine Milliken:
Es gibt sehr genaue Anweisungen, wo die Musiker im Saal platziert sind oder wohin sie sich bewegen müssen. Ich weiß, dass dafür bestimmte akustische und kompositorische Gründe bestehen.

Benedict Mason:
Nun, es gibt Wahrnehmungsgründe: Eine präzise Choreografie lässt sich mit geringer Probenzeit nur sehr schwer organisieren – eine improvisierte allgemeine Aktivität ist sehr viel einfacher, liegt aber nicht in meiner Absicht. Diese einfachen Bewegungen müssen absolut präzise sein, denn man schafft eine Situation, und die geringste (immer logische) Veränderung dieser akustischen Situation in einem Raum hat Ursache und Wirkung und spielt, mit Blick auf das Resultat, auf und mit unserer Wahrnehmung. (Natürlich ist das kein wissenschaftliches Experiment, und entscheidend ist am Ende das künstlerische Ziel – die Freude, die man anstrebt – diese Dinge wahrzunehmen.)

Wenn ich zudem Musiker außerhalb des Auditoriums platziere und sich bewegen lasse oder sie sich innerhalb und außerhalb des Auditoriums bewegen, wird Entfernung zu einem anderen Parameter als Ruhe. Ist der Mangel an Präsenz bei einem Live-Klang weniger leicht zu orten, wird er empfindlicher, rarer und verlockender und Entfernung zu etwas Bewegendem und Poetischem, und es wird auch das Unsichtbare mysteriöser und gibt dem Zuhörer mehr Raum für seine Fantasie. So wird statt eines Klanges, der genau lokalisierbar im Auditorium links/rechts, vorne/hinten, oben/unten platziert ist, die Poesie der Distanz zum Schönen. Zu unterscheiden von dieser Qualität der Distanz ist das verführerische Locken des immer fragileren und weniger lokalisierbaren Mangels an Präsenz in einem Live-Klang, und daraus entsteht ein weiterer wichtiger und besonderer Parameter.

Ich finde, dass die leichten Dinge immer am schwierigsten sind. Schönes wird nicht ohne Anstrengung erreicht und nicht dadurch, dass man den Prozess abkürzt. Diese Dinge müssen peinlich genau mit Sorgfalt und Geduld in Vor-Proben, Proben und Aufführung vorbereitet werden. Dann beginnen Licht und Schatten, Linien und Winkel zu sprechen, und auch jene Musik beginnt hörbar zu werden, jene verborgene Musik, die man nicht "hört".

Es ist aufschlussreich, das Publikum während einer Aufführung zu beobachten: zu sehen, wie es still zusieht... denkt... hört, und es ist die Qualität von Klang in der Bewegung, die sich im Unbewussten verändert oder in den Übergangsphasen zwischen träumen und nicht träumen oder dem Zustand des Einschlafens davor. Man träumt nie vom Klang in Großaufnahme – Klang, der aus dem Hintergrund verlassener Orte auf uns zutreibt, eine Stimme, die sich plötzlich aus irgendeinem vergessenen Winkel unserer Erinnerung materialisiert.

Catherine Milliken:
Was verstehst du unter "Präsenz"? Das Phänomen ist doch gewiss nicht nur als Gegensatz zur Stille zu sehen?

Benedict Mason:
Wie du vermutest, ziehe ich mit "Präsenz" keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen philosophischen Bemerkungen zur Stille: Ein un-"präsenter" Klang kann sich immer noch sehr gut innerhalb der Grenzen des Hörbaren befinden.

So meine ich mit "Präsenz" nicht einfach Nähe oder Lautstärke. Präsenz ist ein komplexer, "hybrider" Parameter mit psychoakustischen Konnotationen. Wenn man schlicht die im Verhältnis zum Hörer innen und außerhalb postierten Musiker vergleicht, ist natürlich der Musiker im Konzertsaal präsenter.

Wenn ich daran gehe, Musiker außen zu postieren, ist es nicht sehr interessant, wenn sie nur hinter einer dünnen Wand oder einer offenen Tür spielen. Entweder ist es deshalb nicht sehr interessant, weil der Hörer sich vollkommen darüber im Klaren ist, dass der Musiker sich genau hinter dieser Tür oder Wand befindet (auch wenn dies nicht zu sehen ist), und das führt in sich zur Zerstreuung. Oder dieses Stadium des potentiellen Offstage- ("Offscreen"-) Klangraumes ist noch nicht interessant genug. Es ist zu "präsent".
Nur wenn der oder die Musiker weiter weg sind, die Flure entlang, hinter mehreren Türen etc., wird der Klang mysteriös, poetisch, undefiniert. Wenn der Musiker leiser spielt und am selben Platz bleibt, hat das überhaupt nicht dieselbe Wirkung (unsere wunderbaren Ohren sind viel zu schlau, um sich überlisten zu lassen). Ich meine nicht, dass es leichter ist, das Ohr zu betrügen, indem man die Klangquelle weniger lokalisierbar macht – unsere Ohren funktionieren wahrscheinlich immer noch sehr raffiniert -, aber die immense Vielfalt dieser ungewöhnlichen anderen Orte eröffnet sich, und sie bleiben beständig interessant, indem die musikalischen Parameter, die ein sich zwischen ihnen bewegender Musiker zur Verfügung hat, erkundet und wahrgenommen werden können. Im Übrigen kann es sich dabei um jemanden handeln, der sehr laut spielt. Es hängt vom Kontext ab. Und es kann jemand sein, der relativ nah spielt. Und es stimmt, dass diese weniger präsenten Klänge etwas weniger lokalisierbar sind, wie ich gesagt habe.

Akustisch gesprochen verklingen hohe Frequenzen mit der Entfernung schneller als tiefe Frequenzen; der wahrgenommene Ort wird weniger präzise und diffuser (mit zunehmender Entfernung); die Tonhöhe verändert sich, wenn sich der Musiker bewegt – und auch, weil es für den Hörer leiser ist. Natürlich wird ein reiner Klang wie derjenige einer Flöte schneller verklingen als ein komplexer Klang wie der eines Fagottes.

Hohe Frequenzen werden durch die Luft und durch die Oberflächen der den Musiker umgebenden Architektur stärker absorbiert als tiefe: Feste Wände und Böden reflektieren die Tiefen und absorbieren die Höhen. (Auf der anderen Seite tendieren Holzverkleidungen oder dickes Glas dazu, die Tiefen zu absorbieren, und Klinker absorbieren gut die mittleren Lagen.) Große gebogene Wände ändern die Reflexion. Eine konkave Oberfläche konzentriert/fokussiert den Klang. Eine konvexe Wölbung reflektiert/verteilt den Klang in verschiedene Richtungen.

Eine Klangwelle kann nicht nur durch eine feste Oberfläche reflektiert werden, sondern durch jeden relativ abrupten Wechsel in der Umgebung, etwa durch eine Tür. Klangwellen können sich um Hindernisse krümmen. Die Wellen hoher Frequenzen verhalten sich wie Licht. Tief frequenter Klang andererseits geht um Ecken. Also werden tiefe Klänge leichter gebeugt. Und so weiter...

Größere Entfernung bewirkt größere Verzögerungen – ein weiterer "poetischer" Faktor, der meinem kreativen Spiel mit physikalischen Phänomenen hinzuzufügen ist.

Ein Physiker mag es immer noch nützlich finden, über Qualitäten zu reden, wenn es darum geht, musikalische Phänomene auszudrücken. Es steckt so viel Subjektivität darin, dass man Musik schafft, hört und genießt. Der Physiker wird sich aber auch darin wohl fühlen, die physikalischen Fakten zu kennen, die zu den architektonischen Charakteristika führen.

Die alte Redensart über Konzertsäle: "Wenn du gut sehen kannst, kannst du gut hören", wird auf den Kopf gestellt. Mit dem, was ich mache, hört man nur das Ungesehene.

Catherine Milliken:
Die Partitur für dieses Stück ist ein Kunstwerk für sich – eine extrem genaue, zweidimensionale, partiell grafische Skulptur (teilweise auch konventionelle Notation), die danach in der Aufführung zur dreidimensionalen Skulptur wird.

Benedict Mason:
Letzten Endes wird jede ideale Notation zur Befreiung wie zur Einschränkung der Inspiration. Farbe hat für den Aspekt der Notation und des Drucks der Partitur eine wichtige Rolle gespielt, und Farbe hat in der Partitur eine Vielfalt von Funktionen – zumeist musikalischer und akustischer, gelegentlich künstlerischer Art, aber auch, um Kurven und harmonische Funktionen für verschiedene Klänge nachzuzeichnen, die sich durch den Raum auf der Partiturseite / den Raum des Saals bewegen.

Zusätzlich gibt es zwischen den zwölf Teilen der Partitur Blätter mit einem rein visuellen Druck (wie in dem Buch Outside Sight Unseen and Opened). Bei diesen Drucken handelt es sich um eher subjektive Refraktionen von Prozessen und Systemen, die mit dem Stück zu tun haben. Man könnte sagen, dass sie als "Wischer" fungieren, um für den Leser oder Musiker das, was vorher war, auszulöschen in Vorbereitung auf den nächsten Abschnitt des Stückes; in der Aufführung werden sie nicht benutzt, obwohl es schön ist, wenn sie ausgestellt werden!

Das visuelle Material bereitet solcherart Hörbilder für den Leser der Partitur vor, die in genau vermessene "grafische" Klänge in Jetztzeit umgewandelt und schließlich im Sinne von Skulptur dreidimensional werden. Es handelt sich um einen Versuch, Aspekte der visuellen Künste in den Konzertsaal zu bringen und umgekehrt.

Das ist auch der Grund, warum ich dem Stück den Untertitel visual : aural : acoustical : sculptural music gegeben habe. Akustischer Raum ist nicht bildhaft, eingesperrt, eingerahmt: Er hat Resonanz, ist im Fluss, schafft Moment für Moment seine eigenen Dimensionen. Es ist eine Welt, in der das Auge hört, das Ohr sieht und alle fünf (und mehr) Sinne sich an einem Konzert ineinander verwobener Rhythmen beteiligen.

Catherine Milliken:
Die Musiker werden durch akustische Signale koordiniert, (die nur für sie hörbar sind) und die Timing, Tonhöhen und andere musikalische Instruktionen angeben. Das ist nicht das erste Mal, dass du auf einen Dirigenten verzichtest. Ist das vielleicht auch eine soziologische Überlegung oder eine theatralische oder eine rein musikalische?

Benedict Mason:
Aber natürlich gibt es einen Dirigenten! Franck Ollu wird die Proben in der ganz normalen Rolle eines Dirigenten übernehmen – anders ginge es gar nicht. Nur dass er kein 48-armiger Shiva ist und wir Clicktracks brauchen, um die genauen Klangbewegungen im Raum zu koordinieren.

Er hat einen fürchterlichen Job – weit schlimmer, als nur mit den Armen zu fuchteln: Er muss praktisch 48 einzelne Musikstücke lernen, wofür ich sehr dankbar bin! Ich liebe Clicktracks – sie gehören zur Kunst unserer Zeit und ihre Verwendung in Pop- und Filmmusik kann für das, was wir tun, ein sehr wichtiger Rückhalt sein. Klassische Musiker sind daran weniger gewöhnt, wenn sie nicht in Filmstudios arbeiten.

Ein weiterer wichtiger Grund für einen Clicktrack in "felt / ebb / thus / brink / here / array / telling" besteht darin, dass die Präsentation alles ist, und eine solche Installation von Ausführenden in Nähe und Intimität zum Publikum darf nicht durch Papier behindert werden; also sollen die Musiker davon frei sein, auf diese furchtbaren Punkte sehen zu müssen, die zwischen Interpret und Publikum geraten. Deswegen muss das Stück auswendig gemacht werden, und Clicks, Wörter und Samples können für die Musiker wichtige Gedächtnisstützen, aides mémoires, sein.

*Auf Englisch erschienen im Pfau-Verlag 2002.

Komposition für die Baar-Sporthalle Donaueschingen

Das Werk hat Mason speziell auf den Aufführungsraum, die Donaueschinger Baar-Sporthalle ausgerichtet. Dabei wird nicht nur die Halle selbst voll ausgenutzt; auch außerhalb wird – unsichtbar für das im Saal sitzende Publikum – musiziert. So zum Beispiel im Heizungskeller, auf dem Gang oder im Freien auf der benachbarten Straße. Der Effekt, den Mason mit dieser Distanz erzielen wollte, ist, den Klang mysteriös, poetisch, undefiniert wirken zu lassen.

Der Saal ist bei der Aufführung von Masons Werk ebenso wichtig wie die Spieler und die Komposition. Ausführende, Pulbikum und Konzertsaal werden als ein miteinander verbundener räumlicher Organismus betrachtet. Noch wichtiger aber ist, dass jeder Hörer eine einzigartige akustische Erfahrung macht.

Das Stück ist für 48 Spieler konzipiert, die insgesamt 600 Instrumente spielen müssen. Jeder der zwölf Teile verlangt von den Ausführenden, entweder ihre eigenen Instrumente zu spielen, die speziell adaptiert worden sind, oder aber auf von Mason selbst entwickelte Instrumente zu musizieren, wie z.B. Nagelviolinen oder Wasserflöten, oder verschiedene Formen von Okarinas bis zur Kontrabassokarina.

Dabei verwendet Mason nach eigenem Empfinden die einfachsten Objekte und solche, die am effektvollsten klingen, um die reinsten und grundlegendsten akustischen Phänomene zu erforschen, wie zum Beispiel: Längsvibrationen, Helmholtz-Resonatoren (oder Instrumente mit eigenen, eingebauten Resonatoren), vibrierende Saitenlängen; alle Arten von Obertönen, die physikalischen Eigenschaften verschiedener vibrierender Röhren, Beats, Dopplereffekte, erste Reflektionen und der erste Klang, Nachhallzeiten, Geschwindigkeit von Klang usw.

Die Musiker bewegten sich im Saal und außerhalb nach einer komplizierten, genau festgelegten Choreographie. Auf- und Abgänge, Aufstellung rund um das Publikum, zum Teil auch mitten im Publikum, Platzwechsel während eines Satzes, Bewegen auch durch die Stuhlreihen zwischen den Zuhörern hindurch usw. – all dies war darauf abgestimmt, besondere akustische Phänomene hörbar zu machen. Die Musiker wurden durch akustische Signale koordiniert, die Timing, Tonhöhen und andere musikalische Instruktionen angaben. Für Mason, der seinem Werk den Untertitel "visual : aural : acoustical : sculptural music" gegeben hat, handelt es sich bei der Aufführung um Skulpturen, die sich dreidimensional durch den Raum bewegen.

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SWR