Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Maim zarim gnuvim"

Stand
Autor/in
Chaya Czernowin, aus dem Englischen: Lydia Jeschke

"Maim zarim gnuvim" (hebr.: fremdes Wasser, gestohlenes Wasser)

Ein Gedanke:

Die Worte, die wir sprechen sind nur ein Teil unserer Kommunikation. Wir übermitteln Bedeutung durch Betonung, Tempo, Stimmfärbung, Tonfall, Mimik, körperlichen Ausdruck usw.

Diesen Gedanken festhalten:

Maim zarim gnuvim ist ein Stück, das auf alles hört, bis auf die Worte.

Eine Welt der winzigen, verschwiegenen, transparenten und fließenden Energien enthüllt sich durch ein kleines Fenster. Während diese Energien winzig sind, ist die Zeitskala des Stückes riesig. Das ermöglicht einen langen dicht fokussierten und vergrößerten Blick auf die winzigen, verschwiegenen Energien. Tatsächlich beginnt das Fenster selbst sich durch einen solchen mikroskopischen Blick als Wahrnehmungsrealität aufzulösen. Umso mehr, als die kleinsten Intentionen und Tendenzen vergrößert und in übertriebener Weise explizit werden. Jedes Mal, wenn es eine leichte Verzögerung in der Bewegung der winzigen Energien gibt, scheint die gesamte Existenz des Stückes als konkret hörbare Realität in Frage zu stehen.

As

Während ich Tag für Tag an diesem Stück komponierte, drängten die Tagesereignisse im Mittleren Osten sich mir auf, brachen über mich herein, veranlassten die winzigen flüssigen Energien, zu einem schiefen, blinden und stotternden Marsch zu gerinnen.

Ein ausführlicher, persönlicher Bericht, den Titel der Komposition betreffend:

Als ich begann, das Stück zu schreiben, wurde das Eintauchen in die Klangwelt des Anfangs zu einer Art Passion. Die Klänge waren wie Wasser, so transparent und flüchtig, dabei so elementar und unentbehrlich, dass sie einen Durst stillen konnten. Es wurde allmählich schwierig, den Schreibtisch zu verlassen.
Das war im September/Oktober 2001, und es fiel zusammen mit den Ereignissen des 11. September, als tausende Menschen getötet wurden, als durch die Reaktion Amerikas viele in Afghanistan getötet wurden und die Welle des Patriotismus, die Amerika überschwemmte, überall in den Straßen spürbar war.

Zur selben Zeit wurden täglich Menschen getötet, Menschen töteten und Menschen explodierten im Mittleren Osten, angetrieben durch Zorn und Ungerechtigkeit. Die Nachrichten kamen jeden Tag, unnachgiebig. Die dünnen, fluktuierenden Wälle meiner unsichtbaren "Wasser-Insel" waren immer weniger zu spüren. Nachträglich habe ich festgestellt, dass die wasserartigen, intimen Pulsationen meines Stückes in einen vergrößerten Schlag einer kollektiven Trommel, des ganzen Orchesters verwandelt wurden, und die kleinen, privaten Äußerungen wurden melodische Ausbrüche eines verdrehten Marsches, wie der Marsch der Blinden in Breughels Gemälde, ein Marsch, der sich unbarmherzig nähert, ohne Ziel, ohne Kontrolle.

Die Dringlichkeit der politischen Realität stellt das Recht des Einzelnen in Frage, sich in drängenden Zeiten seiner Kunst zu widmen, wo doch stattdessen offenbar Aktion und öffentlicher politischer Aktionismus gebraucht werden. Als Israelin wurde ich dazu erzogen, den Aufbau eines Landes (und damit die Existenz als Teil eines Kollektivs) für nobler und wichtiger zu halten als die Produktion von Kunst (und damit die Existenz als Individuum). Innerlich muss ich noch immer darum kämpfen und mein Recht verteidigen, mich der Kunst zu widmen, weil dieses Engagement für mich eine grundsätzlich individualisierte, subjektive Substanz hat.

Dies ist nicht nur ein innerlicher Konflikt.
Bedenken wir unsere blinden und mechanischen Reaktionen auf aufgeladene politische Situationen: unsere Bereitschaft, der individuellen Identität eine kollektiv einzuflößen; unser Bedürfnis, zu einem "UNS" zu gehören und dieses "UNS" gegen "DIE ANDEREN" zu setzen. Unsere Verhärtung in eine RICHTIGE Gruppe, indem wir mit dem Zeigefinger auf die FALSCHE Gruppe zeigen; und der verzweifelte Zug der ganzen Herde, die alle individuellen Zweifel unterdrückt, um im Meer der Furcht einen Platz zu finden, wo die Gruppe eine falsche kollektive Sicherheit erreichen kann. Einen Platz, wo Zögern und Selbstzweifel durch die Sicherheiten der Gruppe ausgemerzt sind.

"Maim zarim maim gnuvim" ist selbst eine Erfahrung dieser Konflikte, indem das innerliche Wasser gestohlen wird, um stattdessen fremdes, seltsames Wasser einzuflößen.

Blick aufs Notenpulte der Streicher mit den Noten des Werks von Chaya Czernowin
Das Werk von Chaya Czernowin bei der Uraufführung

Musik kann Stimme des Kollektivs sein, eine Stimme, die uns ins Kollektiv zieht, doch ich wünsche mir Musik, die uns befähigt, einen Zweifel zu erfahren, eine Unsicherheit, sich selbst zu befragen, und die uns vor allem mit unserer Individualität verbindet. Nur von dieser Selbstbefragung aus kann eine Öffnung und Änderung beginnen.

Danken möchte ich den Solisten Rico Gubler, John Mark Harris, Seth Josel, Mary Oliver und Peter Veale für ihre doppelte Präsenz im Stück: als Inspirationsquelle und als Fundus an Kenntnis und Erfahrung mit den jeweiligen erweiterten Instrumentaltechniken. Großer Dank geht auch an das Experimentalstudio, besonders an André Richard und Michael Acker, für eine lange und sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Maim zarim gnuvim ist der erste Teil eines Tryptichons, dessen zweiter Teil allein für die Solisten geplant ist, der dritte Teil dann für die Solisten mit Orchester.

"Maim zarim gnuvim" ist Francisca Clamer gewidmet.

Stand
Autor/in
Chaya Czernowin, aus dem Englischen: Lydia Jeschke