Werke des Jahres 2000

Cellular Structures

Stand

Steffen Schorn

"Die Zelle ist die kleinste Einheit des lebendigen Organismus und weist alle Eigenschaften des Lebens auf", kann man im Lexikon lesen. Der Organismus besteht aus Zellen und ist selbst organisiert wie eine Zelle.
"Cellular Structures" heißt Steffen Schorns Auftragsarbeit für die Donaueschinger Musiktage, weil die Musik sich hier, wie ein hochkomplexer Organismus, nach "organischem" Prinzip aus einzelnen Zellen zusammensetzt.

Die gesamte Komposition spiegelt dabei Strukturen, die bereits in den Elementarbausteinen angelegt sind. Dies ist das Hauptprinzip des Werkes. Einige Erläuterungen zu Steffen Schorns musikalischer Zytologie (‘Zellenlehre’) mögen es verdeutlichen:
Die Zellen seiner Komposition konstruiert Schorn aus Grundmaterial, das das gesamte Stück in rhythmischer, harmonischer und melodischer Hinsicht bestimmt. Er geht dabei nach elementaren Prinzipien vor:
Auf rhythmischer Ebene lautet das Prinzip "Division" statt "Addition". Ein 7/4-Takt mit bestimmter Akzentabfolge etwa, wie er in "Cellular Structures" verwendet wird, wird nicht in wechselnde asymmetrische Untergruppen gegliedert, sondern in Ketten nächstkleinerer Notenwerte unterteilt, in deren Abfolge sich dasselbe Akzentmuster wie im Grundmetrum wiederfindet.

Die Teilstücke spiegeln auf diese Art die Bauweise des Ganzen. Vergleichbar ist das Ergebnis den "selbstähnlichen Figuren" der Fraktalgeometrie: Figuren, deren Ausschnitte, bei hinreichender Vergrößerung betrachtet, die gleiche Struktur aufweisen wie ihr Gesamt. Die überlagerten Schichten ergänzen sich zu einem faszinierend schillernden Rhythmusteppich von ganz eigener Groove-Qualität.
Auch beim verwendeten Tonmaterial ist ein ständiger Bezug der einzelnen Zelle zur tonalen "Gesamtorganisation" gegeben. Cellular Structures wird nicht durch funktionsharmonische Gesetzmäßigkeiten bestimmt, sondern durch Modi und Relationen.

Wechselnde Harmonien ergeben sich aus der Transposition und Transformation eines in seinen Proportionen festgelegten Primär-Akkordes. In den vielen so gewonnenen Klängen bleibt der Grundmodus stets präsent und wahrnehmbar: Er schwingt mit und prägt auf analytisch kaum nachvollziehbare Weise das Klangbild.
Die mannigfach verschiedenen Zellen der Komposition sind miteinander verwandt und können vielfältig verknüpft werden, sich überlagern und abwechseln. Das Gesamtsystem ist nicht vollständig durchdeterminiert, sondern grundsätzlich offen: Einige Elemente durchsetzen das Werk wie zufällig oder geben Raum für die improvisatorische Ausarbeitung, andere können sich bis zu funktionalen Gebilden von der Größe eines "Satzes" ausdehnen.

Das Projekt "Cellular Structures" und die angewandte Arbeitsweise resultieren in vielerlei Hinsicht aus Schorns bisherigen Erfahrungen. Ähnlich wie seine Musik in der Anlage den Weg vom Einfachen zum Komplexen nimmt, hat der äußere Werdegang Steffen Schorns von der kleinstmöglichen Gruppenbesetzung - der Urzelle des Duos mit Claudio Puntin - bis zur verstärkten Arbeit mit Big Bands und gemischten Ensembles geführt. In diesem Jahr ist "Cellular Structures" bereits sein viertes Großprojekt.

In seinen Formationen vom Duo bis zur konzertanten Big Band ist Steffen Schorn beständig auf der Suche nach einem neuen Umgang mit Form: weg von der traditionellen Thema-Improvisationsfolge des Jazz hin zu einer stärkeren Durchdringung von vorgegebenem Material und Improvisation. Er hat sich auf tieffrequente Blasintrumente spezialisiert und experimentierte mit neuen und ungewohnten Klangkombinationen und Klangkörpern wie Flaschen, Pfeifenorgel oder E-Cello. Bei Cellular Structures wird er neben Tasteninstrumenten, Samplern und dem Theremin den Prototyp eines eigens für ihn konstruierten klappenlosen Subkontrabasssaxophones ("Bb-Tubax") einsetzen.

Steffen Schorn hat sich für dieses Projekt Mitmusiker ausgesucht, mit denen er bereits intensiv zusammengearbeitet hat oder die in anderem Kontext ihre Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit einer komplexen neuen Klangsprache dokumentierten. Das Trio mit Roger Hanschel und Dirk Mündelein war Keimzelle des heutigen Steffen Schorn Septettes, zu dem auch Henning Sieverts gehört. Mit Nils Wogram, einem der profiliertesten Musiker der jüngeren Generation, hat Schorn mehrfach in anderem Rahmen (u.a. auf der letzten Kölner MusikTriennale) zusammengearbeitet. Wie Schorn selbst gehören diese vier Musiker der Kölner Szene an. Martin France wurde bekannt vor allem als Schlagzeuger diverser Formationen des britischen Keyboard-Genies Django Bates. Pierre Charial ist mit seiner Drehorgel schon seit Jahren ein Grenzgänger zwischen Neuer Musik und Jazz (und war bei den Donaueschingen Musiktagen schon zweimal zu hören).

Cellular Structures führt sieben Musiker unterschiedlicher Hintergründe zur Auseinandersetzung mit einem neuen und komplexen Konzept zusammen. Wie verwickelt und beziehungsreich es aber auch sein mag: Die Musik fügt sich immer wieder zu Bildern und Figuren von frappierend einfacher Schönheit. Sie ist, wie vieles von Steffen Schorn, immer wieder von charakteristischem Schub und Groove. Und sie ist nicht nur nach dem Modell des Lebens organisiert, sondern sie ist in jeder Faser - in jeder Zelle - funkensprühend lebendig.

Odilo Clausnitzer

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Autor/in
SWR