Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "NN"

Stand
Autor/in
Dieter Schnebel

"Es gibt nur das Ziel, aller Weg ist Zögern"

Im Juni hatte ich in Freiburg anlässlich der Verleihung des Elisabeth-Schneider-Preises eine Rede zu halten, und ich zitiere daraus:

"Meine Damen und Herren, ich hatte unlängst ein Gespräch mit einem alten Freund und Gefährten der Avantgarde-Zeit. Wir kamen auf Begrifflichkeiten, z.B. "Neue Musik" und/oder "Zeitgenössische Musik". Im Laufe des Gesprächs entschieden wir uns für "Neue Musik". Zeitgenössisch, d.h. Genosse sein der eigenen Gegenwart an dem – wie es Hegel einmal formulierte, was "an der Zeit ist": Das verlangt eine Hellhörigkeit gegenüber den Strömungen der jeweiligen Gegenwart, und es verlangt aber auch eine Anpassung an die Zeit selbst. Allerdings denken wir uns wohl nicht viel dabei, wenn wir "zeitgenössische" oder "Neue Musik" sagen.

Ich möchte nun doch für den Begriff "Neue Musik" eintreten und erinnere an Ereignisse meiner eigenen Jugend vor fünfzig Jahren, als das große Kampfwort "Musik der Avantgarde" aufkam. Da gab es beispielsweise ein Buch, das damals Furore machte – nicht von einem Musiker, sondern von einem Maler: Willi Baumeister. Seine Kunst war in der Nazizeit verboten, galt als "entartet".

Er hatte im Verborgenen gelebt, in jener Zeit schwierig überwintert. Nach dem Krieg publizierte er dieses Buch mit dem Ziel, die von den Nazis tabuisierte Kunst wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber es war auch ein prinzipielles Buch mit dem schönen Titel "Das Unbekannte in der Kunst". Baumeisters einfache These: Große Kunst versucht immer, Unbekanntes zu kreieren, etwas, das man noch nicht kennt, was es noch nicht gibt – also ein "Neues".

Ich erinnere an zweiter Stelle an den großen amerikanischen Komponisten John Cage, der schon in den späten dreißiger Jahren und dann in den vierziger Jahren Musik komponiert hatte, die er "experimentell" nannte – und die in den fünfziger Jahren allmählich ins europäische Bewusstsein drang. Experiment bedeutete für ihn eine Versuchsanordnung mit ungewissem Ausgang, also beim Komponieren eine Konzeption zu entwerfen, bei der man nicht weiß, was dabei herauskommt. In seiner ganzen kompositorischen Karriere strebte er wieder und wieder Überraschung an – auch für sich selbst. Seine Stücke sollten unvorhergesehen und in solchem Sinn "neu" erscheinen. In meiner Freiburger Studienzeit hörte ich eine wunderbare Vorlesung: "Der Ursprung der Philosophie aus dem Staunen". Von Cage her gesehen gilt dies auch für die Musik.

Und nun erinnere ich noch an eine dritte wichtige Person: Theodor W. Adorno, der 1949 seine aufsehenerregende und wegweisende Philosophie der Neuen Musik publiziert hatte. Er gab 1950 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik einen Kompositionskurs – anstelle von Schönberg, der angekündigt war, aber aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen konnte. In diesem nicht gerade zahlreich besetzten Seminar waren beispielsweise Karlheinz Stockhausen, der belgische Komponist Karel Goeyvaerts und andere, Heinz-Klaus Metzger und ich. Goeyvaerts präsentierte mit Stockhausen seine Sonate für zwei Klaviere, eine der ersten seriellen Kompositionen. Adorno, Schüler von Alban Berg, war von dieser Avantgardemusik eher verstört, hatte jedenfalls Verständnisschwierigkeiten. Und die dauerten an. Für ihn war die große Zeit der "Neuen Musik" diejenige von 1908 bis ca. 1918, die Epoche der gewaltigen Emanzipation der Neuen Musik, in der sie zur "freien Atonalität" vorstieß. Von daher gesehen musste ihm das, was wir damals machten, eher problematisch erscheinen. Um seinen eigenen Standpunkt kritisch darzulegen, publizierte er 1955 einen programmatischen Essay mit dem Titel "Vers une musique informelle" – hin zu einer informellen Musik in nicht mehr festen Formen und Abläufen. Dieser Artikel ging in seinen Gedanken weit über das hinaus, was Adorno von seiner eigenen Herkunft her ästhetisch verkraften konnte. Dieser Essay hat einen wunderbaren Schluss, nämlich, es käme darauf an, "Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind".

Nochmals also: Baumeister – "Das Unbekannte in der Kunst"; John Cage – "Experimente mit unvorhersehbarem ungewissem Ausgang"; Adorno – "Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind". Kurz: "Neues" als eigentliches Ziel von Kunst – und nicht so sehr seinen Sinn darauf zu richten, dass man "zeitgenössisch" ist (und dann womöglich "postmodern"). Das Neue aber ist am Anfang stets modern – bleibt es vielleicht auch.

So weit die Freiburger Rede, und nun Weitergedachtes: Mit dem Neuen ist es freilich so eine Sache. Beispielsweise findet man etwas, was es – vermeintlich – noch nicht gab: unbekannte Klänge auf einem Instrument, und man komponiert sie; dann geht man diesen Weg weiter, bei einem anderen Instrument, noch einem, noch... etc. Oder man findet komplexe rhythmische Strukturen oder gar eine neue Kompositions-Methode – z.B. eine der Reduktion – eine neue Ästhetik; vielleicht auch ist es ein Text, eine Formidee, eine verrückte Kombination von... und entwickelt das weiter, weiter. Alles Wege in Neue, und auf ihnen geht man voran: noch eins draufsetzen, noch eins usf. – bis eigentlich nicht mehr so viel zu holen ist. Und siehe da: plötzlich ist es postmodern (= zeitgenössisch?).

Das Neue aber liegt nicht auf dem Weg – er ist stets schon Historie – höchstens als Abfall, Verlorenes, Vergessenes. Eher liegt es neben dem Weg – links in einem Dickicht, oder vorn in der Ferne, Richtung Morgenrot -. Oder es ist plötzlich da, im Fortschreiten, ist überhaupt der Fort-Schritt. Aber wahrscheinlich liegt es ohnehin nicht da, sondern fliegt, flattert herum, und wenn man es zu fassen sucht, entwischt es.

Wann aber hat man es? Im Woanders, im Irgendwann – just am rechten Ort, im richtigen Moment. Seine Wirkung aber ist überraschend, ein Überfall: Wesentlich: Es ist ungebraucht – eventuell sauber (Blitz!-sauber); eventuell verdreckt, weil verbuddelt; darum auch fremd, ja verstörend. Das Neue ist anders – "unbekannt".

Nachwort

Armin Köhler hatte die Idee, in meinem Text für die Donaueschinger Musiktage den ersten Teil meiner Freiburger Rede zu zitieren – wie geschehen – und hatte dazu zwei Fragen:

"1. Was ist unter diesem Aspekt ‚neu' an deinem Donaueschinger Stück?" Ich weiß es nicht.

"2. Was könnte ‚neu' sein in einer postmodernen Situation bei den jungen Komponisten?" Ja, wo ist das Neue, wann? (Wo/wann z.B. auch in NN?) Wie soll ich es wissen? Wenn ich das Neue beschreiben, zu kategorisieren wüsste, wenn ich es wüsste, wäre es dann noch neu?

Kafka sagte (schrieb) einmal: "Es gibt nur das Ziel, aller Weg ist Zögern." Der Satz gefällt mir besser als Nonos wieder und wieder zitierte Inschrift in Toledo. Der Satz steckt voller Fragen – vor allem: welches ist das Ziel, und wo ist es, oder wann kommt es? Weißt du es, kann ich es wissen? So ist es wohl auch mit dem Neuen. Auf! Auf!

NN

für bewegliche Stimmen und stationäre Instrumente

Erstens also bewegliche Stimmen, d.h. einmal solche vokalisierend/sprechend in sich bewegt: Mund Lippen, Zunge (wie man's von Dieter Schnebel gewohnt ist – vielleicht mit ein paar neuen Einfällen); diese aber auch selbst unterwegs – horizontal: gehend, laufend, robbend etc., vertikal: springend, kletternd, fallend. Die Stimmen erzeugen in solchen Weisen eine singende/sprechende Raummusik, in der die Klänge manchmal weit gestreut, manchmal dicht verknäult erscheinen; zuweilen selbst in Bewegung – sei es in stereophonen Effekten, sei es, dass die Klangträger schleichen, rennen o.ä., somit eine eigene Bewegtheit, eine abstrakte Emotionalität haben. Diese mag ja nach der Art der Laute in drastische Konkretheit umschlagen, zumal die Körperbewegungen oft selbst semantisch wirken.

Zweitens stationäre Instrumente, die sich an festen Plätzen befinden: Schlagzeuge, die ohnehin schwer transportabel sind. Sie bilden für die im Raum dahinfließenden Klänge Wegmarken, formieren aber auch eine Art Korsett, das die Zeit zusammenhält, zumal die rhythmischen Formen des perkussiven Parts ein eng umschriebenes Material variieren. Die Fell-, Holz-, Metall- u.ä. -klänge aber mögen einen vorzeitlichen Touch haben.

Also räumlich bewegte Stimmenklänge, welche die schillernde Vielseitigkeit menschlichen Ausdrucks in Linien horizontal ausziehen: reine (abstrakte) Laute bis konkrete (obszöne), artistische Fantasiesprachen bis Alltagsjargon. Dies wiederum gegliedert vom hämmernden Zeitraster oft archaisch anmutender Klänge. Das mag eine widersprüchliche und absurde Ästhetik erzeugen: einerseits Moderne mit gegenwärtigem Alltag, andererseits vorweltliche Rituale mit dada-Aspekten. Das Stück als Frage: Wo befinden wir uns?

¹Gehalten am 30.Juni 2001

Stand
Autor/in
Dieter Schnebel