AK: Sintflut: ein Videotriptychon mit Live-Orchester und fünfkanaliger Tonbandzuspielung. Sintflut: drei Medien: Film, Orchester, Elektronik. Sintflut: ein visueller Entwurf, ein auditiver Entwurf. Wenden wir uns zunächst einmal dem thematischen Hintergrund zu. Der Sintflutmythos hat bekanntlich eine große Geschichte und weckt die vielfältigsten Assoziationen...
DH: Ich habe mir ein Thema mit einer möglichst extensiven Assoziationsbreite gewählt, ein Thema, welches zu den Urmythen nicht nur des abendländischen Kulturkreises gehört. Wir wissen heute, dass der biblischen Sintflut eine historische zu Grunde lag: Neueste Forschungen besagen, dass ungefähr 10.000 vor Christus ein Meteoriteneinschlag im Mittelmeer eine totale Überschwemmung des Schwarzen Meeres auslöste, welche alle Kulturen im Umfeld zerstörte. Der Sintflutgedanke ist mithin nicht einer, der in den Bereich der Legende gehört, sondern einer mit einem historischen Ursprung. Das ist auch der Grund, weshalb man die Idee der Sintflut nicht nur in der christlichen Mythologie findet, sondern ebenso im Gilgames-Epos, in der hellenistischen, akkadischen und der jawhaistischen Mythologie. Die Bibel ist nur das letzte Buch, das auf diesen Mythos eingegangen ist. Meine Aufgabe sah ich in der „Arbeit am Mythos„, durchaus, wenn nicht zu prätentiös, im Blumenbergschen Sinne, dessen gleichnamiges Buch vielleicht sogar gewissermaßen Ausgangspunkt für Konzeption des Drehbuchs war.
AK: Es handelt sich im Grunde wohl um eine Urangst.
DH: Jean Paul hat einmal gesagt: Das europäische Abendland ist in seiner ganzen Geschichte vom Fall Trojas geprägt und abhängig. Ich glaube, dass wir auch heute vielmehr von Grundmythen abhängig sind, als wir denken. Die Sintflutmythe gehört für mich ganz eindeutig dazu. Sie hat für uns noch eine Bedeutung, weil sie unsere Urängste weckt. Man braucht sich nur die Fernsehberichterstattung von ‚heutigen Sintfluten‘ anzuschauen. Obwohl diese zumeist nur Infotaincharakter haben, spielen sie mit diesem Phänomen.
AK: Wenn ich richtig gezählt habe, besteht der Film aus 12 Szenen...
DH: Man kann dies hier nicht so schematisch auflisten. Eine Szenenfolge, wie wir sie aus traditionellen Filmen kennen, ist hier allein schon deshalb nicht gegeben, weil wir mit drei Leinwänden arbeiten, die Überlappungen bewirken, die im konventionellen Film gar nicht möglich wären.
AK: Dennoch finden sich klar getrennte thematische Blöcke.
DH: Vielleicht kann man diese Blöcke am besten an Figuren festmachen. Der Film zeichnet die Reisen des Henoch durch den Fundus der Sintflutmythen nach. Henoch, auch ein Überlebender der biblischen Sintflut und Vorfahr Noahs, ist der Schreiber Gottes, der Erfinder der Schrift. Diese Figur aus den Apokryphen, die so interessanterweise in der heutigen Bibel nicht auftaucht, ist ein früher Künder der Apokalypse, welche hier in Traumgesichtern und Bilderreden fast surreal gezeichnet wird. Bei mir begibt er sich zunächst zu Andromeda, deren Mutter die Götter durch Eitelkeit beleidigt hatte. Andromeda soll als Opfer instrumentalisiert werden, zur Abwehr von göttlicher Strafe, nämlich der Sintflut. Henoch besucht weiterhin Philemon und Baucis, die einst dem als Bettler verkleideten Zeus als einzige ein Gastmahl gewährten und deswegen von der Sintflut verschont blieben. Sie dürfen als zwei ineinander verschränkte Bäume weiterleben. Die Reise endet bei Simeon, dem Säulensteher, der zur Verhinderung einer Überschwemmungskatastrophe sich selbst kasteit. Scheinbar umsonst, da wir uns offensichtlich bereits in der Unterwelt befinden. Zentrales dramaturgisches Moment des Films ist es, dass all diese Mythen, die den gleichen Ursprung haben, miteinander verschränkt werden, obwohl sie in den mythologischen Überlieferungen nicht wirklich in Verbindung stehen.
AK: Eine zentrale Figur ist das kleine Mädchen, das ab einem bestimmten Punkt wie ein roter Faden den Film durchstreift. Welche Funktion hat dieses Mädchen?
DH: Die Setzung des Filmes ist die Idee, dass der gezeigten und gespielten Sintflut eine globale Katastrophe, eine alles umfassende Apokalypse, bereits voraus gegangen ist. Henoch und das kleine Mädchen sind die Übriggebliebenen, da die mythischen Figuren Andromeda etc. nur mehr als Chimären fungieren. Das ausgesetzte Kind, als Verkörperung des Prinzips Hoffnung übrigens auch eine universelle Mythe, kann seine Heilsbringerfunktion in einer Verbindung mit Henoch nicht erfüllen. Schließlich können sie kein weiteres Leben zeugen. Die Elpis mündet hier in Hoffnungslosigkeit.
Sintflut bedeutet letztlich einen point zero. Einen point zero, wie er in der Musikgeschichte vor allem von John Cage proklamiert wurde und dennoch nie möglich war. Die Auslöschung des Vorherigen löst Angst aus wie es Potential darstellt. Für mich von Interesse war die Transposition historischer Mythen ins Heute.
AK: Es handelt sich jedoch wohl nicht um ein religiöses Stück.(?)
DH: Zu allererst stellt es die Grundfrage der Theodizee. Es arbeitet mit religiösen Symbolen, die mir sehr wichtig sind, weil sie zu unserer Kulturgeschichte gehören. Ich habe große Probleme mit der gegenwärtig sich vollziehenden Entwertung dieser Symbole, einer Entwertung, die unseren Blick auf deren Ursprünge und Bedeutungen verstellt. Ich wollte eine Recherche betreiben und diese Symbole surreal miteinander verknüpfen, um damit neue Blickwinkel auf diese Elemente zu ermöglichen. Wenn ich beispielsweise ein Schaf aus dem spätbarocken Deckenfresco des Stifts Wilhering zeige, dass über ein Kreuz in ein Filmbild wandert mit Schaf am Kreuz, dann bietet diese Überblendung hoffentlich Raum für vielfältige Assoziationen.
AK: Zum Bildmaterial: Wir haben drei Leinwände, haben kontrapunktisch geführte Bildrhythmen, reale Umwelt, fotografierte Fresken oder Bilder, wir haben Menschen, Darsteller, wir haben schnelle Tempi und epische Längen. Weshalb verwenden Sie drei Leinwände? Es könnten ja auch fünf sein, es könnte der ganze Raum sein, es könnte aber auch nur eine sein...
DH: Das ist ein Verweis auf das Christentum. Das Triptychon hat als Altarbild eine gewisse Konnotation: Es will wie der Film etwas über Reihung erzählen. Dieses Prinzip setze ich fort. Mit dem Unterschied, dass bei mir das fixierte Bild zu einem bewegten Bild wird. Das gab es im übrigen auch schon zu Beginn des 20 Jahrhunderts im Napoleonfilm mit dem „triple écran„. Diese Tradition des polyrhythmischen Arbeitens mit Bildern ist nur weitestgehend in Vergessenheit geraten, weil sie dem heutigen Film insofern verstellt ist, als er nur für das traditionelle Kino und für das Fernsehen arbeitet. Genauso wie der Stummfilm - wir haben ja noch gar nicht erwähnt, dass ich einen Stummfilm gemacht habe - ebenso in Vergessenheit geraten ist. Ich habe mich davon frei gemacht, auch deshalb frei gemacht, um Cuts setzen zu können, die selbst zu Musik werden. Also der Schnitt ist Teil der musikalischen Komposition und umgekehrt die musikalische Komposition Teil des Schnittes. Mein musikalisches Arbeiten ist ein filmisches und mein filmisches Arbeiten ist ein musikalisches. Nur deshalb konnte dieser Film als Musikfilm entstehen.
AK: Welche Rolle spielen die Farben im Film? Neu bei diesem Projekt scheint mir der Umgang mit der Farbe zu sein. Auf jeden Fall geht die Farbbehandlung weit über die übliche Funktion der Stimmungsmalerei hinaus. Die Farbe wird hier vielmehr autonom behandelt und kontrapunktisch eingesetzt Ich würde gar von einer Farbkontrapunktik sprechen, die sich auch in der Musik wiederfindet bzw. aus ihr heraus erwächst.
DH: Vollkommen richtig. Wenn ich schon von den Donaueschinger Musiktagen einen Auftrag erhalte, dann verstehe ich ihn auch als einen Forschungsauftrag. In diesem Fall als eine Recherche, die die Verbindungslinien zwischen Visuellem und Auditivem im Bereich der Klangfarbe wiederherstellt. Dies scheint mir ein Bereich zu sein, der nach Skrjabin - abgesehen vom Videoclip - viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist für mich schon erstaunlich, dass Filmschaffende von heute den Parameter Farbe so wenig beachten. Für die Videokunst ist das hingegen kein Problem. Dort hat keiner Hemmungen, ein Bild vollkommen neu einzufärben oder neue Tönungen zu suchen. Für mich ist die Farbe im Film genauso emanzipiert wie die Farbe in der Musik, weil auch sie Rhythmen setzt. Ich kann mit den heutigen technischen Mitteln inmitten einer Szene Farbgebungen wandeln, verstärken, verwaschen usw., so wie es in der elektronischen Musik schon längst üblich ist. Ich beginne eine Szene in einer Grundfarbe und beende sie - ohne einen Schnitt gemacht zu haben - in einer vollkommen anderen Farbe. Dieses Prinzip taucht in diesem Stück des öfteren auf. Zudem verweisen Klangfarben im Orchester auf Farben im Film und umgekehrt.
Lassen Sie mich noch etwas zu den unterschiedlichen Längen der einzelnen Szenen sagen. Es gibt Abschnitte mit „himmlischen„ Längen. Abschnitte, die uns in unserer Wahrnehmung strapazieren, weil sich scheinbar erst mal gar nichts verändert. Diese sind jedoch dramaturgisch nötig, als Kontrast zu den schnellen Schnitten, die als Zeigefinger fungieren, also Verweischarakter haben. Sie helfen auch, das narrative Moment des Films zu durchbrechen, in einer Form, wie es ansonsten nur im Videoclip üblich ist: mit Schnittfolgen in einem Tempo von bis zu einhundert Schnitten in einer halben Minute.
AK: Kommen wir zur Musik. Ist es überhaupt möglich, autonom über die Musik zu sprechen?
DH: Ich hoffe doch! Ich habe jedenfalls den Anspruch, dass sie auch als autonome Musik funktioniert. Umgekehrt hat allerdings der Film als Stummfilm keine Existenzberechtigung für mich. Wiewohl die Musik in einem ganz hohen Maße vom Film inspiriert ist, ist sie schon das autonomere Kunstmittel. Sie verweist einerseits auf das, was wir an Mythengeschichte in den Bildern aufgezeigt bekommen und fungiert andererseits auch als kontrapunktisches Kontrastmittel. Immer aber handelt es sich um einen permanenten Versuch, sich gegen die Macht der Bilder zu wehren. In der Mauthausen-Szene beispielsweise ist die Musik eher Künderin, ja Verstärkung der Katastrophe. Anders hingegen in der Philemon und Baucis-Szene, in der auf dem Boden des überschwemmten Hauses eine Spielzeug-Arche Noah schwimmt, aus der die Tiere herausgepurzelt sind - gewissermaßen als Symbol für die Katastrophe in der Katastrophe. Die Musik, die dazu tönt, entstand zum Teil aus kleinen Kinderspielorgeln. Wir hören „Guten Abend, Gute Nacht„ und „An der schönen blauen Donau„, allerdings verfremdet. Die Instrumente wurden ins Klavier geworfen, in sich verstimmt oder live-elektronisch verfremdet und klangerweitert. Nichts desto trotz ist es noch möglich, zu erkennen, was da einst tönte. Filmtechnisch wie filmmusikalisch verwende ich hier einen Trick. Kinderspielzeug wie Kinderspielorgel verweisen auf das später erscheinende Kind und setzen eine falsche Idylle in der überschwemmten Kate von Philemon und Baucis. In der nächsten Szene wird die Spielzeug-Arche zu gegeneinander schaukelnden Kirchenschiffen. Die Spielorgeln werden geloopt, geshiftet und verhundertfacht, d.h. die Idylle schlägt um zur Katastrophe. Letztlich mutiert die Donauspielorgel zur Minimalmusic und zeichnet wiederum eine Scheinidylle für das szenisch folgende tableau vivant, mit Henoch, auf überschwemmter Straße stehend.
AK: Weshalb schreiben Sie ein Live-Orchester vor? Es könnte ja auch von der Tonspur des Filmes kommen.
DH: Vielleicht weil ich dieses Moment der Unschärfe möchte, dieses Moment des Immer-wieder-Neuerlebens, was auch jedes Konzert bietet. Mit gleichem Recht könnte man ja auch sagen: „Warum braucht man überhaupt noch Sänger auf der Bühne, warum brauchen wir überhaupt noch eine Oper, die nicht als Film dargeboten wird?„ Live erlebte Musik generiert eine andere Welt, weil die Schwebungen, die entstehen, einen anderen Charakter haben, als es beispielsweise beim besten Dolby-Surround System möglich ist. Ich verlange zum Beispiel bestimmte Flageolettgriffe, sogenannte Möwengriffe, die niemals gleich gegriffen werden können, und allein schon damit immer wieder neu sein werden. Zudem verweise ich auf die ursprüngliche Konstruktion des bereits erwähnten „triple écran„, bei dem auch ein live spielendes Orchester zugegen war. Ich möchte ganz bewusst auf diese Tradition rekurrieren, denn auch das Orchester ist ein traditionelles Instrument. Da im Stück selbst das Aufeinandertreffen von Tod und Leben zum Gegenstand wurde, ist es nicht falsch, als Kunstmittel eine vielleicht ähnliche Konfrontation zwischen alt und neu zu versuchen.
Mit dem gleichen Recht könnte man fragen, weshalb wir überhaupt noch ein Orchester erklingen lassen und nicht gleich eine CD abspielen.
AK: Schließlich noch zum dritten Material, zur Elektronik....
DH: Auf diesem Gebiet hat sich auf Grund der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die das Freiburger Studio bietet, das größte Forschungsfeld ergeben. Ich habe ganz bewusst nicht live-elektronisch gearbeitet, da die Speicherkapazitäten bei meiner Informationsdichte nicht ausgereicht hätten. Das Grundmaterial, das es zu verarbeiten galt, stammt gänzlich von akustischen Instrumenten, die alle von mir aus Kostengründen selbst eingespielt wurden - mit meinen begrenzten technischen Fähigkeiten. Deren Klänge wurden durch den Computer geschickt, so dass am Ende auch kein Fachmann mehr erkennt, welches der Instrumente gerade erklingt. Es war für mich ein ganz spannendes Forschungsfeld, wie beispielsweise aus dem Klang einer Mundharmonika ein Klang entwuchs, der einem Fagott oder einer Klarinette ähnelt, aber dennoch nicht deren Klangspektren entsprach. Solch einen komplexen Vorgang könnte ich weder mit live-elektronischen Mitteln noch mit dem Orchesterapparat erzielen.
AK: Das elektronische Zuspiel dient also der Klangerweiterung und der Raumverteilung, und nicht - wie ich dachte - als Klammer zum anderen elektronischen Medium Video...
DH: Dieser Faktor spielt natürlich eine Rolle, auch aus rein praktischen Gründen. Ich kann halt mit dem elektronischen Apparat framegenau arbeiten, d.h. es besteht die Möglichkeit, auf den Schnitt Millisekunden genau ein bestimmtes klangliches Ereignis zu setzen.
AK: Sie haben davon gesprochen, die Instrumente für die elektronische Weiterbearbeitung selbst eingespielt zu haben. Wir leben in einer Zeit einer schier unbegrenzten Spezialisierung. Sie, Herr Heusinger, haben aber entgegen diesem allgemeinen Trend den Mut gehabt, den Film und zugleich die Musik in Personalunion zu entwerfen. Den Film wiederum nicht nur als Autor zu gestalten, sondern zugleich auch dessen Regisseur, Produzent, in einigen Szenen gar Kameramann zu sein, sie haben komponiert, sie haben gespielt - hatten Sie nie die Befürchtung, sich zu übernehmen?
DH: Doch! Finanziell habe ich mich auf jeden Fall übernommen, mit den unerquicklichsten Auswirkungen. Wenn man bedenkt, dass der Film mit einem Etat von weniger als 60.000 DM auskommen musste, ein 3x45minütiger Film wohlgemerkt! Sie, Herr Köhler, waren leider nicht einmal in der Lage, sich zu einem vollen Drittel an diesem Betrag zu beteiligen. Sie können sich vorstellen, was das bedeutet... Jedenfalls hätte ich gerne auf die Produzententätigkeit verzichtet.
AK: Sie kennen die finanzielle Situation der Musiktage. Doch zurück zu meiner eigentlichen Frage. Ich höre schon jetzt - zwei Monate vor dem Festival - den Blätterwald rauschen. So wie im vergangenen Jahr das Auseinanderbrechen der Konzepte durch die Einbeziehung zweier Künstler in The long rain von Olga Neuwirth/Michael Kreihsl bemängelt wurde, wird in diesem Jahr wohl darauf verwiesen werden, dass ein Künstler allein diese übergroße Aufgabe schon aus technischer Sicht nicht bewältigen kann. Und für diese Einschätzung gibt es nur einen einzigen Grund: „Es gehört sich nicht„ in einer Zeit des Spezialistentums.
DH: In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Früh-Schriften von Karl Marx, in denen er über entfremdete Arbeit spricht. Man kann da von einem Ideal des Menschen lesen, der morgens Jäger, Sammler und Bauer und abends Kritiker ist. Ich habe den Anspruch, mich nicht in entfremdete Arbeit hineindrängen zu lassen. Und in diesem Falle hätte ich mich entfremdet, wenn ich nicht Kontrolle über alle Ausfertigungen gehabt hätte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich mit einem anderen Künstler so eng hätte zusammenarbeiten können, dass er sich musikalische Ereignisse von dieser Komplexität hätte vorstellen können, die es braucht, wenn es gilt, 150 Schnitte in einen Abschnitt von 40 Sekunden rhythmisch, also musikalisch, zu setzen. Ich bin der Meinung, dass dies nur möglich ist, wenn man von vornherein die Bildwelt mit der musikalischen Welt verknüpft. Wie Sie wissen, versuche ich mich seit neun Jahren auch als Opernregisseur. Diese Tätigkeit ist filmischen Arbeiten durchaus verwandt. Im Übrigen ist dies nicht mein erster Musikfilmversuch, sondern ich habe mich auch mit Pandora I &II bereits der Idee eines filmischen Triptychons ausgesetzt.
AK: Noch einige Worte zum musikalischen Material...
DH: Das Interessante daran ist, dass sich Spielweisen finden, die tatsächlich im Einklang mit den Bildern stehen. Nehmen wir das Bild einer untergegangenen Landschaft, die ich mit Möwengeschrei untermale, keinem realistischen Möwengeschrei, sondern einem, welches mit Hilfe der bereits erwähnten Möwengriffe der Streicher erzeugt wurde. Reales Möwengeschrei einzublenden, wäre für mich banal gewesen. Ich versuche vielmehr, innerhalb dieses Möwengeschreiklanges ein harmonisches Gefüge zu bilden. Das geschieht teilweise in harmonischer Vierteltönigkeit oder andere Konstellationen. Das ist das eine. Dann gibt es aber auch klangliches Material, das vollkommen autonom zu betrachten wäre. Zum Beispiel die vierteltönige symmetrische Arbeit. Ich habe in diesem Stück stärker noch als in meinen bisherigen Arbeiten versucht, ein temperiertes System zu finden, das einerseits vierteltönig ist, sich andererseits auf Obertonverhältnisse bezieht und zum dritten auf die traditionelle Harmonik. Der Hauptteil meiner musikalischen Forschungsarbeit bestand darin, diese drei verschiedenen Konstruktionsprinzipien zu einem Gefüge zusammenzuführen.
AK: Findet sich dieser Materialansatz auch in der Raumverteilung wieder?
DH: Ganz gewiss. Immer dort, wo ich antiphonisch denke, gibt es die Möglichkeit, Klänge mit Vierteltonklammern zu umschließen, die in sich als Nukleus ein harmonisches traditionelles Gefüge haben, aber umschlossen sind von einem vierteltönigen Raumklang. Ein weiterer Aspekt erklärt sich über den Film: Das Triptychon des Filmes wird kontrastiert durch das Triptychon des Orchesters. Den drei Orchestergruppen können einzelne Bildsequenzen der einzelnen Bildschienen zugeordnet werden. Das heißt, ich kann auf der Leinwand A ein Ereignis sehen, das mit einem akustischen Ereignis der Orchestergruppe A korrespondiert. Und über dieses Bezugssystem entsteht ein Ordnungsgefüge, das dem Zuschauer ermöglicht, sich in meinem Irrgarten besser zurecht zu finden.
Die Verzerrung der Zeitperspektive¹
Was will er denn mit der
ungeheuren Zeit all anfangen?
Büchner, Woyzeck
Ikonische Konstanz ist in der Beschreibung von Mythen das eigentümlichste Moment. Die Konstanz seines Kernbestandes lässt den Mythos als erratischen Einschluss noch in Traditionszusammenhängen heterogener Art auftreten. Das deskriptive Prädikat der ikonischen Konstanz ist nur ein anderer Ausdruck für das, was die Griechen am Mythos als sein archaisches Alter beeindruckte. Die hochgradige Haltbarkeit sichert seine Ausbreitung in der Zeit und im Raum, seine Unabhängigkeit von lokalen und epochalen Bedingungen. Das griechische mython mytheisthai besagt, eine nicht datierte und nicht datierbare, also in keiner Chronik zu lokalisierende, zum Ausgleich dieses Mangels aber in sich selbst bedeutsame Geschichte zu erzählen.
Noch die frühchristlichen Autoren glaubten, dass eine Geschichte eben deshalb so alt werden könne, weil sie kraft ihres Wahrheitsgehalts den besonderen Schutz der Erinnerung genieße. Auf dieser Voraussetzung beruht die patristische Allegorese. Sie ist das Verfahren, den archaischen Wahrheitsgehalt wiederherzustellen. Die Mneme wird so zum untrüglichen Organ, wenn nicht des Wahren, so doch des Bedeutsamen.
Nur eine andere Form, dies zu beschreiben, ist die Behauptung von der Unerfindbarkeit des Mythos; er ist, nach Schellings Wort, einer der Urgedanken, die sich selbst ins Dasein drängen. Das ist vom Feuerraub durch Prometheus gesagt. Es wäre also kein Gedanke, den ein Mensch erfunden haben könnte (Schelling, Philosophie der Mythologie. 1856, I 482).
Das Mythologem ist ein ritualisierter Textbestand. Sein konsolidierter Kern widersetzt sich der Abwandlung und provoziert sie auf der spätesten Stufe des Umgangs mit ihm, nachdem periphere Variation und Modifikation den Reiz gesteigert haben, den Kernbestand unter dem Druck der veränderten Rezeptionslage auf seine Haltbarkeit zu erproben und das gehärtete Grundmuster freizulegen. Je kühner dieses strapaziert wird, um so prägnanter muss durchscheinen, worauf sich die Überbietungen der Zugriffe beziehen.
¹ Zitat aus: Hans Blumenberg Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2001
- Themen in diesem Beitrag
- Detlef Heusinger, Sintflunt, Videotriptychon für drei Orchestergruppen und fünfkanaliges Tonband