Der Zwölfteltonabstand ist so klein, dass er nicht mehr als Intervall gehört wird, sondern als unterschiedliche Schattierung eines einzigen Tons. Die Frequenzbreite eines Tons im romantischen Orchesterklang ist größer. Die klangliche Wirkung einer Tonleiter in Zwölfteltonschritten ist daher einem Glissando ähnlich.
Die Wirkung eines Clusters aus Zwölfteltönen hängt vom Register ab: in der Höhe scharf, reibend, beissend, in der Tiefe weich, verschmelzend, reich.
Selbstverständlich kann man mit Zwölfteltönen rauhe, dissonante Akkorde bilden – viel differenzierter (auch im Schärfegrad) als nur mit den traditionellen 12 Tönen pro Oktave.
Aber es ist auch möglich, wesentlich "konsonantere" Akkorde als im gewohnten 12-tönigen Tonraum zu bilden: Die Obertonreihe lässt sich bis zum 12. Teilton mit einer sehr guten Annäherung im Zwölfteltonsystem abbilden.
Die Intonation der Klaviere ist jederzeit präzise abrufbar – während es nur mit dem Orchester allein sehr zeitaufwändig wäre, unterschiedliche Obertonakkorde (auch solche mit Grundtönen außerhalb des traditionellen 12-tönigen Systems) einzustudieren, können die sechs entsprechend gestimmten Klaviere diese Akkorde spontan hörbar machen – freilich nur in der begrenzten Approximation der 72 Zwölfteltöne pro Oktave.
In der Partitur ist die folgende Anmerkung zur Intonation der Obertonakkorde notiert: "Die zwölfteltönige Stimmung der Klaviere bringt zwar eine gute Annäherung an die Intervalle der Obertonreihe, trotzdem weicht sie davon deutlich ab. Im Idealfall sollten die Instrumente des Orchesters die Vorgaben der Stimmung der Klaviere nur beim Grundton und den Oktaven übernehmen, alle anderen Intervalle (insbesondere die Quinten und großen Nonen, die großen Terzen und die kleinen Septen) nach dem Gehör im Sinne einer reinen Intonation korrigieren, wobei die zwölfteltönige Stimmung der Klaviere nur zur Schaffung von Orientierungspunkten dient."
"limited approximations" erzählt keine Geschichte. Wie bei allen meinen Kompositionen gibt es auch keine formale Entwicklung oder traditionelle formale Gestaltung. Es wechseln sich kontrastierende Elemente ab – Momente der Verschmelzung und der Reibung. "Pseudo-Glissandi" der Klaviere münden unverhofft in einen Obertonakkord. Scheinbar stabile Intervallkonstellationen geraten zwölfteltönig ins Wanken.
Immer wieder werden die annähernd spektralen Klavier-Akkorde vom Orchester übernommen. In früheren Werken hatte ich mich aus Rücksicht auf die Realisierbarkeit auf wenige Grundtöne beschränken müssen: "in vain" kommt nur mit den 12 Grundtönen der traditionellen temperierten Skala aus. "Natures mortes" verwendet nur 6 verschiedene Obertonakkorde, 4 davon basieren auf Grundtönen des traditionellen temperierten Systems. In "limited approximations" steht – dank der Hilfe der Klaviere – der gesamte Tonraum zur Verfügung.
Im letzten Drittel des Stücks ist eine mikrotonale Gegenbewegung komponiert: von der Quinte c' – g' zur neutralen Sekunde zwischen dem zwölfteltönig erhöhten es' und dem sechsteltönig erniedrigten f'. Dabei entstehen 10 verschiedene Intervalle, jedes davon wird zum Kernpunkt eines Obertonakkordes. Dieser Abschnitt dauert mehr als 100 Takte.
Oder: Ein Obertonakkord, im Fortissimo angeschlagen, klingt aus, wird vom Orchester aufgegriffen, schwillt an zu einem lauten Schlag, der den Anschlag des nächsten Obertonakkords der Klaviere verdeckt, nur der Nachklang ist zu hören, er klingt aus, wird vom Orchester aufgegriffen, schwillt an... (usw.)
Oder: Zwei verschiedene Obertonakkorde mit windschief gegeneinander wirkenden Grundtönen werden abwechselnd ein- und ausgeblendet (usw.).Immer wieder werden Melodien gespielt, die von Klavier zu Klavier wandern – als Tremolo, als Einzelton, als Obertonakkord.
Oder: Ein Intervall (z.B. die Quinte c-g) erklingt in allen Oktavlagen – aber einige dieser Oktaven sind um einen Zwölftelton vergrößert. Das Ohr hört zurecht (oder versucht, zurechtzuhören) – horizontal betrachtet schwanken die Intervalle in Zwölfteltonschritten und bleiben doch auf der Stelle...
Gegen Ende des Stücks wird (nach einer "aria" aus Obertönen) das aus dem traditionellen 12-tönigen Tonsystem gewohnte Prinzip umgekehrt, dass Obertonakkorde unscharf intoniert sind: Hier werden die Obertöne (annähernd) korrekt intoniert – aber die Basstöne verschwimmen im zwölfteltönigen Cluster. Die Streichinstrumente behalten den durch die "aria" aufgebauten Obertonakkord bei – ungestört durch das daran anschließende "intermezzo", in dem die Klaviere den Akkord in Zwölfteltönen parallel verschieben.
So zentral die Arbeit mit den Obertonakkorden für "limited approximations" auch ist, am Anfang stehen Prozesse der Unschärfe, der Trübung und der Reibung. Im Verlauf des Stücks gerät die Musik scheinbar unverhofft zu diesen Ausgangssituationen zurück – Reminiszenzen, Rückfälle, Kontraste.
Am Ende steht ein Zitat von Ivan Wyschnegradskys "Harmonien" (gegen das Relikt eines Obertonakkords in den Streichinstrumenten) – nicht in der Klarheit seiner Komposition "Arc-en-ciel" (1988 durfte ich dieses Werk für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere uraufführen), sondern in der Eintrübung von allmählich in die Höhe gleitenden zwölfteltönigen Wolken. Auch diese Annäherung ist nur eine begrenzte.
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- Georg Friedrich Haas, Limited approximations Konzert für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester
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