Das Wort „sketches“ im Titel von Wertmüllers neuem Stück deutet darauf hin, dass einige kompositorische Skizzen den freien Improvisationen den formalen Weg weisen werden. Wertmüller greift also auf ähnliche Verfahren zurück, wie er sie bei seinen Stücken für „Steamboat Switzerland“ und für Brötzmanns „Chicago Tentet“ bereits angewandt hatte: auf eine Kombination notierter und frei improvisierter Passagen. Und dabei wird auch der eigenwillige Umgang mit der Zeit eine entscheidende Rolle spielen, die Wertmüller mittels extrem komplexer Polymetriken strukturiert. Nicht zuletzt deshalb hat sich Wertmüller mit dem Percussionisten Dirk Rothbrust einen in der neuen Musik firmen, zweiten Schlagwerker in seine eigens für dieses Projekt zusammengestellte Gruppe geholt, deren Kern das Trio „Full Blast“ bildet. Denn seine Partituren wimmeln von scheinbar unspielbaren Rhythmen, die er aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Schlagzeuger gewinnt. Sechs- und siebenbalkige 256stel und 512tel sind keine Seltenheit in Wertmüllers Stücken, in deren graphischem Erscheinungsbild – in unruhig wimmelndem Schwarz – sich viel von der Wildheit und Dynamik seiner Musik spiegelt. Von einem „sich in Rhythmen und Klängen entfaltenden Expressionismus“ spricht Wertmüllers Kompositionslehrer Dieter Schnebel, der dieser Expressivität seines Schülers auch „etwas fast altmodisch Genialisches“ attestiert: als „unmittelbare Äußerung einer kraftvollen Originalität“.
Wertmüllers Einfallsreichtum im Bereich der improvisierten Musik besteht vor allem darin, dem wildwüchsigen Free Jazz kompositorische Strukturen zu verpassen, ohne ihm deshalb Zügel anzulegen. Denn schließlich kreist dieser formal strukturierte und um heftige Rockelemente bereicherte „Neo Free Jazz“ immer noch um dieselbe Sache wie in den 1960er Jahren: um die Kritik an politischen Zuständen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die ein Maß an Unerträglichkeit gewonnen haben, dass die breite Masse heute davon nahezu paralysiert erscheint. Das Bewusstsein für die mögliche Utopie einer Welt ohne Armut, ohne Hunger, ohne Unterdrückung zu wecken, verbirgt sich hinter einem wilden, ungebärdeten Aufschrei als Ziel. Dass er eine in elektronisch-medialer Lethargie versinkende Gesellschaft zu erwecken vermöge, ist diesem musikalischen Warnruf zu wünschen.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2010
- Themen in diesem Beitrag
- Michael Wertmüller, sketches and ballads
- Verwandte Beiträge
- Werke des Jahres 2001: Michael Wertmuellers "Die Zeit. Eine Gebrauchsanweisung", Werke des Jahres 2012: Michael Wertmüllers "Skip A Beat", Werke des Jahres 2016: Michael Wertmüllers "discorde für Hammond-Orgel, E-Bass, Schlagzeug und Ensemble", Michael Wertmüller über sein Werk "Skip A Beat"