Die stark durch Rock (e-guitar) und Jazz (reeds) vorbelastete Instrumentierung des Ensembles Nikel schreit geradezu nach einem hohen Maß an Respektlosigkeit im Umgang mit Materialien. Sie lädt dazu ein, die musikalischen Voraussetzungen zu torpedieren.
Mich interessiert es, Musikern mit großem Talent zu begegnen und einen Weg zu finden, diese Begabung herauszustellen, die besonderen Fähigkeiten in eine Komposition zu integrieren. Auf diesem Wege wird die Komposition mit dem Stempel der Person geprägt, an die bei ihrer Entstehung gedacht wurde. Insofern war es eine große Hilfe, mit den (meisten) Musikern des Ensembles Nikel schon im Stück "time – in prog." zusammen gearbeitet zu haben.
"Skip A Beat" ist ein polytemporales Stück. Musik, in welcher sich zwei oder mehrere Tempi gleichzeitig ereignen. Musik, die zwei oder mehrere Tempoangaben benötigt, bei der konsequenterweise die Dauer eines gegebenen Notenwertes nicht dieselbe in allen Teilen eines bestimmten Punktes der Zeitlinie ist. Sie erreicht die höchste Stufe der Virtuosität.
Jetzt dazu meine fundamentale Frage, wie man den expressiven Rausch ordnend bändigt...?
Es entsteht ein musikalischer Raum, in dem diese sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften der Zeit in unterschiedlichen Perspektiven parallel verlaufen, was im vertikalen Schnitt eine dialektische Wirkung zum Vorschein bringt.
"Skip A Beat" ist voll von rhythmischen Kapriolen, komplexen Taktzahlen und metrischen Verschiebungen sowie seltsamen harmonischen Fortschreibungen, außerdem höchst antipuristisch. Man kann eine kontextuelle Dekonstruktion kanonisierter musikalischer Stile und Werte konstatieren, wider die Neue Musik der Vernunft am flüchtigen Rand des Raums im trägen Geist der Zeit. Was bildet sie mehr als das X eines Analphabeten?
Einmal abgeschossen, mag sich diese eruptive Musik-Kanonenkugel auf ihrer Flugbahn durchaus frei fühlen; ohne Schmerz, Reue oder Warnung eintreffen.
Die verwendeten harmonischen Systeme und Verbindungen sind insgesamt betrachtet eher konventionell, was nicht ausschließt, dass sich im Einzelnen Spannung erzeugende Akkordrückungen und Kontrast schaffende Stufensprünge finden. Die verwendeten klassischen Harmonieschemata sorgen für Durchgangsakkorde, Modulationen und dissonierende Harmonien für Variation.
Die Sequenzen, bestehend aus mehreren gleichzeitig gespielten Rhythmen und gegenläufigen Melodien, sind – abgesehen von der einmaligen Wiederholung einer melodischen Wendung, welche auf einer anderen Tonstufe erscheint – gleiche Tonfolgen, stufenweise versetzt. Multi-Rate Effekte werden mit X-tolen gegen ein globales Tempo gesetzt.
Durch Akzentsetzung hervorgerufene asymmetrische Anordnung gleichförmiger Notenwerte, ebenso rhythmisch-metrische Permutationen und Polymetrik, Augmentation und Diminution sowie Hemiolen werden als durchschnittliche Stilmittel gebraucht. Sie vermitteln ein Gefühl, als ob, obwohl vorhandener Beats, Beats ausgelassen oder übersprungen oder verschluckt werden und neue Beats im Beat entstehen.
Da der Anspruch von "Skip A Beat" teilweise außerhalb der Grenzen des Möglichen liegt, hat nicht nur jedes Übermaß an Komplexität, Tempo und Dynamik, sondern auch der Zustand der mechanischen, rhythmischen und mentalen Überforderung der Musiker eine notwendige Funktion zu erfüllen: nämlich in die Zeit hinein und gleichzeitig von ihr weg. Ziel ist es, das lineare, horizontale Zeitempfinden zu transzendieren, um dieses Phänomen in einem Moment intensivierter Zeit ohne die Einschränkung der menschlichen Wahrnehmung zu erfahren.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2012
- Themen in diesem Beitrag
- Michael Wertmüller, skip a beat für Tenor- und Baritonsaxophon, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug
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