Aufmerksamkeit und Fasslichkeit. Armin Köhler im Gespräch mit Enno Poppe
Köhler:
Welche Elemente machen eine Großform aus? Wie definiert man heute eine Großform? Wird sie nach der Zeitdauer bemessen oder nach einer Massierung? Ist beispielsweise Cages Orgelstück "ORGAN²/ASLSP" in der Halberstädter Version von 639 Jahren eine Großform, nur weil das Stück so lang dauert?
Poppe:
Das ist ein gutes Beispiel. Wobei man in diesem Fall wohl eher nicht von einer Großform als vielmehr von einem unheimlich langen Stück sprechen sollte. Schließlich besteht dessen Partitur ja nur aus zwei relativ dünn beschriebenen Seiten. Andererseits weiß ich gar nicht, ob ich mich an solch einem Definitionswettbewerb beteiligen sollte, der versucht, eine Großform zu fixieren. Es ist schließlich immer eine Frage der Kriterien, die man anlegt. Ich glaube, dass die Informationsdichte ein ganz interessanter Faktor bei der Bestimmung einer Großform ist. Insgesamt gesehen ist es aber ein subjektives Kriterium. Für einen Komponisten, der immer nur Zweiminüter schreibt, ist ein achtminütiges Stück bereits eine Großform. Wenn ich zum Beispiel an György Kurtág denke, dann fällt mir momentan kein Satz seiner Werke ein, der länger als vier Minuten dauert. Trotzdem würde ich diese vierminütigen Gebilde als Großform werten, insbesondere dann, wenn man sich in seinem Werk auskennt.
Köhler:
Sehen Sie, so wie ich, auch eine Renaissance der Großformen? Vornehmlich vor dem Hintergrund des Schönberg-Zitats zu den "Sechs Bagatellen für Streichquartett" von Anton Webern: "Jeder Blick lässt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt." Diese Aussage war doch prägend für ein ganzes Jahrhundert.
Poppe:
Dem kann ich nicht unbedingt zustimmen. Ich glaube, dass auch sehr viel Kunstfertigkeit dazugehört, aus einem Seufzer einen ganzen Roman zu entwickeln. Als ich den Schönberg-Text das erste Mal gelesen habe, dachte ich: Das würde ich auch gerne einmal können − aus einem Seufzer einen ganzen Roman machen. Gelungen ist dies im Grunde erst in den 1950er Jahren dem Nouveau Roman mit Autoren wie zum Beispiel Claude Simon. Oder denken Sie an Proust, der mit seiner Differenzierungskunst aus den kleinsten Details Großformen gebildet hat. Proust und Schönberg sind annähernd der gleiche Jahrgang; mithin vertreten sie zwei verschiedene Seiten ein und derselben Medaille. Ich glaube, es geht vielmehr darum, den Maßstab selbst zu verändern und nicht bei einer standardisierten Variante zu verharren. Bei Webern geht es in die eine Richtung, bei Proust in die andere. Aber vielleicht hängt auch beides miteinander zusammen.
Köhler:
Eine Renaissance der Großform betrachten Sie damit als ausgeschlossen?
Poppe:
Ich weiß nicht, ob es sich um eine Renaissance handelt. Ich glaube vielmehr, viele Dinge sind schon immer dagewesen und auf unterschiedlich großes Interesse gestoßen. Ich kann Ihnen in jedem Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts Stücke nennen, von denen sich sagen ließe, dass es sich um außerordentliche Großformen handelt. Ich brauche nur an "Inori" von Stockhausen in den 1970er Jahren zu denken oder an die "Sinfonia" von Berio aus den 1960ern. Das sind unzweifelhaft Großformen. Es hat immer Großformen gegeben! Und es hat immer Versuche gegeben, einerseits Ideen zu finden, die sich in Großformen ausdrücken lassen, und andererseits solche, die unabdingbar nur in einer Großform funktionieren. Es ist ja eher so, dass die Ideen selbst die Maßstäbe und die Dimensionen erzeugen. Auch in "Speicher" ist das nicht anders. Es gibt ein paar Ideen, bei denen ich glaube, daran immer weiterschreiben zu können. Was ich damit sagen möchte, ist, dass nicht die Großform die erste Idee ist, die mir in den Sinn kommt, so ein langes Stück zu schreiben, sondern es sind die Ideen selbst, die dazu führen, dass es sich immer weiterschreiben lässt.
Köhler:
Ich sehe gegenwärtig durchaus ein verstärktes Interesse an musikalischen Großformen − allein schon ausgelöst durch die computergesteuerten Kompositionstechniken, insbesondere durch die stochastischen und andere auf algorithmischen Prinzipien beruhende Techniken. Aus meiner Sicht wurde es erst dadurch möglich, Prozesse auszulösen, die richtungslos – und damit potentiell unendlich − aus einer Keimzelle wachsen. Anders als Ihre Musik, die auf einer richtungsgeprägten Zeitachse, quasi linear abläuft.
Poppe:
Dazu lässt sich vieles sagen. Mit algorithmischen Prozessen am Computer habe ich mich auch beschäftigt. Das ist durchaus sehr interessant, führt aber nicht unbedingt zu größeren Formen. Wenn man die Stücke von Xenakis anschaut, in denen er mit stochastischen Prinzipien arbeitete, dann sind diese nicht unbedingt länger als die Stücke, die er ohne diese Prinzipien geschrieben hat. Es scheint mir, dass es eher umgekehrt ist: da, wo er den Computer ausgeschaltet hat, haben sich die Stücke in die Breite entwickelt. Mit dem Computer geht man eher in die Tiefe, in das Verästelte hinein.
Was Sie zur Arbeit mit Zellen bemerkten, stimmt durchaus. Die ersten Stücke, die ich aus derartigen Zellen entwickelt habe, sind jene, bei denen ich beobachtete, wie Zellen sich zu Ketten zusammensetzten, wie aus Atomen Moleküle wurden. Natürlich waren die ersten Stücke relativ kurz. Da gab es zum Beispiel das "Thema mit 840 Variationen", das in sechs Minuten diese 840 Variationen "abarbeitete". Mich interessiert es ungemein zu hinterfragen, was solche von mir entwickelten kompositorischen Verfahren zu leisten vermögen. Und gerade bei "Speicher" habe ich tatsächlich versucht zu schauen, was passiert, wenn ich einen solchen Prozess über achtzig Minuten laufen lasse. Es gibt ein anderes Stück, das auch in Donaueschingen uraufgeführt wurde: "Keilschrift". Es setzt sich aus Zellen zusammen, die nicht kurz, sondern sehr lang sind, wo ich den Prozess in die Weite entwickelt habe, bedingt allein durch die Tatsache, dass die einzelnen Elemente schon so groß waren.
Köhler:
Dennoch: Ich komme zurück auf die algorithmischen Prozesse und auf die Zeitrichtung.
Bei algorithmischen Prozessen, ob nun vom Computer gesteuert oder nicht, hat der Komponist die Möglichkeit, Prozesse unendlich laufen zu lassen, da sich diese ohnehin gewissermaßen selbst generieren. Wobei wir bei der Frage wären, warum Sie ein Werk gerade so beginnen, wie Sie es beginnen, und warum Sie es auf eine ganz bestimmte Weise an einem ganz bestimmten Punkt enden lassen?
Poppe:
Nehmen wir das erwähnte "Thema mit 840 Variationen". Ausgangspunkt ist hier ein ganz kleiner Keim − nur zwei Töne des Klaviers. Mit Hilfe des Computers hatte ich damals Hunderttausende von Variationen generiert, die alle sehr ähnlich waren. Und natürlich geht es bei jeder Komposition von Anfang an immer um das Auswählen. Ich halte gar nichts davon, den Prozess einfach zu starten und dann laufen zu lassen. Das interessiert ohnehin niemanden. Viel wichtiger als einfach eine Maschine einzuschalten, ist es doch, mit dem Hörer eine kommunikative Beziehung aufzubauen. Für mich gibt es immer ein Subjekt, das eingreift, weil es sich um Kunstwerke handelt. Dramaturgische Aspekte sind zum Beispiel auch in ganz kurzen Stücken wichtig. Bei der motivisch-thematischen Arbeit finde ich es besonders spannend, dass man wiedererkennen und dass man beobachten kann, wie sich Dinge verändern, wie sich ein Netzwerk von Ähnlichkeiten ergibt. Ich habe damals für mich den Begriff der Veränderungsdichte erfunden. Dabei geht es darum, dass ein Stück mit Blick auf einen Parameter konstant bleibt und auf einen anderen sich stark verändert. All das hat etwas mit Wahrnehmung zu tun, und damit mit Fasslichkeit. Diesen Begriff verwende ich an dieser Stelle sehr bewusst, da wir soeben ohnehin über Webern gesprochen haben.
Köhler:
Interessanterweise führen Sie den Begriff der "Veränderungsdichte" ein. Das ist ein Begriff, der eine Brücke zum seriellen Kompositionsprinzip schlägt, denn Dichtegrade spielten in einer bestimmten Phase auch hier eine wichtige Rolle. Wiewohl das Serielle gerade die Wahrnehmung ausgeklammert hat, meine ich dennoch, in Ihrem kompositorischen Ansatz eine uneingelöste Option des seriellen Prinzips zu entdecken: nämlich das wechselseitige Verhältnis von Material, Struktur und Form. Deren Vereinheitlichung ließe das Ideal erträumen, in welchem sich die Großform einer musikalischen Komposition als Entfaltung eines einzigen unendlich in sich differenzierten komplexen Klangs darstellt. In diesem neuen Begriff des Klangs heben sich unterschiedliche Aspekte des Tonsatzes auf: Klang ist nicht mehr Objekt und damit bloßer Zustand, sondern Prozess, also selbst schon substantiell und damit Form. Denn die grundlegende Absicht der seriellen Musik liegt in der Vermittlung zwischen dem extrem Kleinsten und dem extrem Größten – den akustischen Eigenschaften des Klangs und der Gesamtform der Komposition. Können Sie dieser Idee etwas abgewinnen?
Poppe:
Die Tatsache, dass man die Parameter voneinander trennte, ist das grundsätzliche Missverständnis der seriellen Musik. Tatsächlich gibt es aber keinen Rhythmus ohne einen Klang; es gibt auch keine Lautstärke ohne einen Ton usw. Meine musikalischen Zellen haben immer alle Parameter auf einmal – selbst ein einzelner Ton. Jedes einzelne Atom der Musik ist bereits komplex. Es gibt nichts, was nicht komplex ist. Das Arbeiten mit diesen komplexen Bausteinen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, ist etwas völlig anderes als das serielle Arbeiten mit diesen beziehungslosen Teilaspekten, die dann mechanistisch ablaufen.
Köhler:
Ihr Begriff der "Veränderungsdichte" bezieht sich also nicht auf die Dichte als Einzelparameter, sondern auf ein ganzes Konvolut von Phänomenen, das sich um diesen Parameter herum gruppiert?
Poppe:
Ganz genau. Schließlich nimmt man als Hörer immer auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig wahr. Man kann wahrnehmen, wenn sich die Klangfarbe oder ein Rhythmus nicht ändert, während gleichzeitig die Tonhöhen sich stark verändern. Das ist ein ganz grobes Raster von Aufmerksamkeitssteuerung. Mit Blick auf das serielle Prinzip finde ich es auf jeden Fall interessant, wie sich einzelne Elemente eines Stückes zu einer Kette zusammenfügen. So können sich die einzelnen Ketten wieder verhalten, wie die einzelnen Elemente sich zueinander verhalten. Und diese sich zu Formteilen zusammenfügenden Objekte können zueinander wieder ein solches Verhältnis haben. Dieser Aspekt ist bei meinen "Speicher"-Stücken sehr wichtig: Hier kehren die gleichen Proportionsverhältnisse, aber auch die gleichen Verhältnisse von Wiederholung, Variation und Unterschied in verschiedenen formalen Größenordnungen identisch wieder.
Köhler:
Was ist für Sie "Form"? Kann ein Prozess bereits "Form" sein? Denken wir nur an die minimalistischen Entwürfe eines Steve Reich.
Poppe:
Selbstverständlich ist Prozess Form! Prozess ist für mich einer der entscheidendsten Bestandteile von dem, was man "Form" nennt.
Köhler:
Woher dann die vielen verschiedenen Formkategorien wie Sonatenhauptsatzform, Kanon, Fuge usw.? Warum dann immer wieder der Versuch, flüssige Materie in eine starre Form zu gießen?
Poppe:
Nun ja, in der traditionellen Musik gibt es nun einmal standardisierte Formen. Ein Komponist wie Haydn konnte mit dem Modell der Sonatenform spielen und seine Hörer überraschen, wenn er zum Beispiel die Reprise nicht ausführte und stattdessen mit der Durchführung fortfuhr. Für einen Komponisten ist das ein beneidenswerter Zustand, weil er natürlich davon ausgehen kann, dass seine Hörer im Rahmen dieses Formenkanons wahrnehmen. Mit diesen standardisierten Prinzipien lassen sich wunderbar Erwartungshaltungen aufbauen oder unterlaufen. Davon sind wir heute weit entfernt. Das muss man aber nicht wirklich bedauern, sondern es als einen erfreulichen Zuwachs an Freiheit empfinden. Andererseits ist es aber erforderlich, dass jedes Stück seine eigene Form ausprägt. Dafür muss sich überhaupt erst einmal etwas etablieren. Also ein Stück, bei dem von Anfang an alle kompositorischen und wahrnehmungsspezifischen Elemente auf dem Prüfstand stehen, wo alles in ständiger Bewegung ist, wird schlichtweg unverständlich bleiben. Ich bin mir sicher, dass es heute dennoch möglich ist, neue Formen zu erfinden, die trotzdem fasslich sind.
Köhler:
Das heißt, um eine fassliche Form auszuprägen, müssen Elemente (wie auch immer sie gesetzt werden) erkennbar sein und bleiben, müssen sich in die Wahrnehmung einbrennen können. Darauf muss ein Komponist strukturell hinarbeiten. Wie machen Sie das in Ihren "Speicher"-Stücken?
Poppe:
Ein einfaches Beispiel ist das Klaviertrio "Trauben". Dessen instrumentaler Gestus wird durch einen einzigen Klavierakkord und ein kleines Glissando der Streicher geprägt. Das ganze Stück spielt mit diesen beiden Elementen. Am Klavier ist es im Grunde nicht möglich, Glissandi zu spielen, und ein Akkord ist für die Streicher immer ein Problem. Ich habe also ganz kleine Elemente entwickelt, die man sofort wiedererkennen kann – und zwar nicht einfach so, sondern aus den instrumentalen Bedingungen heraus. Am Anfang stelle ich wirklich nur Varianten dieser Elemente nebeneinander. Im Verlauf des Stückes vergrößert sich dann der Wahrnehmungsfokus. Und nach einer gewissen Zeit reicht es nicht mehr aus, einen Takt mit dem nächsten zu vergleichen. Schließlich ist ja unsere Hörerfahrung mit dem Stück gewachsen. Das heißt aber auch, dass wir mit fortschreitender Dauer eines Stückes zugleich auch die Großform deutlicher wahrnehmen. Ein langes Stück können wir nicht fragmentarisch hören. Ich sehe hier einen Denkfehler vieler meiner Kollegen, die große Stücke nur aus Fragmenten zusammenbauen. Das funktioniert nicht, schließlich stellt die Wahrnehmung ohnehin Zusammenhänge her. Das Zusammenhanglose ist meistens das Schwierigste. Für die Bildung von Form ist es für mich als Komponist besonders wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie weit ich mich von meinem Ausgangspunkt entfernen kann, wann ich zurückkehren muss, wann ich Bekanntes wieder aufleben lasse oder in wie weit ich das Bekannte in etwas anderes verwandeln kann, damit es mein neues Bekanntes wird.
Köhler:
Das sagt Ihnen in diesem Falle nicht das Material, sondern Ihre Wahrnehmungserfahrung?
Poppe:
Das sagt mir mein Formgefühl. Das ist ja tatsächlich einer der zentralen Begriffe von Arnold Schönberg. Man hat Schönberg immer über seine Zwölftonreihen identifiziert, vergisst aber, dass ein zentrales Moment der Schönberg-Texte das Formgefühl ist. Das ist der entscheidende Punkt. Formgefühl hat Schönberg schon gebraucht als er Sonaten und Fugen geschrieben hat. Auf ein Formgefühl kann man nicht verzichten! Man muss sich in großen Bögen den Prozess, den Energieverlauf von Musik vorstellen können: Wie finden Ballungen oder Entspannungen statt, und welche Entspannungen beziehen sich auf welche Spannungen, welche Proportion bezieht sich auf welche Proportion usw.
Köhler:
Wie kommt es eigentlich, dass man bei Ihrer Musik immer den Eindruck hat, Sie arbeiten motivisch-thematisch im klassischen Sinne, was bei genauerem Hinsehen aber gar nicht der Fall ist. Welche "Tricks" verwenden Sie?
Poppe:
Es gibt keine Tricks; alles liegt ganz offen. Ich gehe sehr nah an das Material heran. Wenn ich eine Zelle als Motiv benutze, dann kann ein einfaches Glissando bereits ein Motiv sein. Das heißt, wenn ich 25 Glissandi dieser Art hintereinanderhänge, wird es immer noch wie eine thematische Arbeit klingen. Ich empfinde dies als einen unheimlich interessanten Prozess, weil ich verschiedene solcher kleinen Objekte habe, die ich verschieden zusammenbauen kann – und dennoch entsteht so etwas wie ein Zusammenhang. Die Ursache hierfür liegt in der hohen Wiedererkennbarkeit meiner Objekte. Daran bin ich besonders stark interessiert.
Köhler:
Wie ist das in "Speicher I" und wie finden sich die Objekte von "Speicher I" in "Speicher VI" wieder?
Poppe:
"Speicher I" benutzt das denkbar einfachste Motiv, das ich je benutzt habe: nur einen einzelnen Bratschenton, gespielt auf der leeren Saite. Einfacher geht es wirklich nicht. Ich wählte also als Startpunkt für diesen Riesenzyklus das simpelste Element, das man sich denken kann. Dieses beginnt sich gleich am Anfang zu verfärben. Später kommen kleine Glissandi hinzu; dann beginnt die Instrumentation sich zu verändern usw. Wir kommen aber immer wieder zu den Bratschen zurück; das ist gerade am Anfang ganz wichtig. Diese einzelnen Töne bilden in der Folge im Grunde immer längere Linien, das heißt, sie bauen sich immer mehr zusammen zu etwas Übergeordnetem. In "Speicher VI" werden einerseits diese einzelnen Töne zu sehr langen Linien verbunden, andererseits spielt auch dieses Vereinzelte wieder eine Rolle. Der Schluss soll eigentlich wieder auf diese Vereinzelung zurückführen, dann aber mit einem ganz anderen Tempo und einer ganz anderen Bedeutung. Schließlich können wir nach achtzig Minuten nicht einfach so tun, als sei wieder alles wie am Anfang. Es wird sich vielmehr alles sehr verändert haben.
Köhler:
"Speicher II“ und die folgenden...?
Poppe:
"Speicher II" ist eher klein besetzt. Nach "Speicher I", der uns das Tutti gezeigt hat und bereits sehr bewegt war, ist "Speicher II" ein sehr virtuoses Stück für jene Musiker, die bei "Speicher III" nicht dabei sind. "Speicher II" ist mit einer Länge von drei Minuten das kürzeste Stück des Zyklus und war deshalb am schwersten zu schreiben. In einem Kontext, in dem alles auf die Expansion ausgerichtet ist, ist es mir schwer gefallen, mich kurz zu fassen. Das Stück enthält Verweise auf alle anderen "Speicher"-Stücke, aber nicht als Zitate oder Motive, sondern in abstrakteren Varianten. Das Saxophon-Solo aus "Speicher VI" ist hier ebenso vorweggenommen wie die durchgedrehte Virtuosität von "Speicher V".
"Speicher III" ist ein Stück mit sehr vielen Linien. In der Besetzung finden sich zwei Bassflöten, eine mikrotonal gestimmte Harfe und Streicher, die mit sehr vielen Melismen arbeiten. Das Material ist direkt aus dem Ende von "Speicher I" herausgewachsen. Insofern ist "Speicher II" eigentlich eine Störung, denn die Musik von "Speicher I" geht in "Speicher III" weiter.
Bei "Speicher IV" handelt es sich um eine riesige Steigerungsform, die sehr stark von den Bläsern getragen wird. Die Form ist in "Speicher II" vorgebildet und unterscheidet sich stark von den selbstähnlichen Proportionen in den Sätzen I, V und VI. Das Stück geht in einen explosionsartigen, sehr kurzen Schluss hinein, an den sich aber direkt "Speicher V" anschließt. Dies ist dann ein sehr virtuoses Stück für das ganze Ensemble. Die Verhältnisse entsprechen hier jenen von "Speicher I", nur mit einer weitaus höheren Geschwindigkeit. Es beginnt auch wieder mit den zwei Bratschen – genau wie am Anfang des Zyklus. Im Grunde ist "Speicher V" eine Art Reprise. Aber da das Stück doppelt so schnell ist wie "Speicher I", wird es sich in etwas vollkommen anderes verwandeln.
"Speicher VI" hat dann die ganz großen Linien, die großen Akkordtürme, und braucht sehr viel Zeit. Weil der "Speicher"-Zyklus insgesamt über weite Strecken über ein schnelles Tempo verfügt, ist es wichtig, dass wir hier in "Speicher VI" noch einmal in Zeitlupe sehr nah an die Details herankommen.
Köhler:
Sie sagten, in Ihrem "Speicher"-Zyklus würden Sie "gegen die Wand fahren". Was hat es damit auf sich?
Poppe:
Als ich vor drei Jahren "Speicher I" anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Klangforum Wien für die Wittener Tage für neue Kammermusik geschrieben habe, war noch gar nicht klar, dass sich das Stück zu einem Zyklus ausdehnen wird. Die Arbeit an diesem Werk fiel mir so leicht, und es war alles so klar, dass ich das Gefühl hatte, hier noch einen Widerstand zu brauchen. Ich musste immer weiterschreiben – und zwar so lange, bis ich wirklich die Wand vor mir sah, wo ich den Widerstand spürte. Dort, wo ich Grenzen sehe, beginne ich mich umso stärker für etwas zu interessieren. Das ist mir beim Arbeiten immer ein wichtiger Aspekt. Er betrifft nicht nur die Form und das Material, sondern eigentlich alle Arten von Ideen. Immer möchte ich über diese Ideen hinausgehen und nicht nur dem folgen, was mir als Erstes einfällt. Ich möchte vielmehr von meinen Ideen etwas lernen und mit ihnen weiterkommen, als es mir am Anfang möglich erschien. Am Ende eines jeden Schreibprozesses habe ich noch sehr viele Ideen im Kopf, die im Stück nicht unterzubringen waren. Ich habe dabei ein gutes Gefühl, denn auch wenn ich den Widerstand in der Wand suche, gegen die ich fahren möchte, so schreite ich dennoch immer weiter fort.
Köhler:
"Form ist Wollust", meint zumindest Ernst Stadler. Das impliziert intensive Expansion. Sie sind ein Komponist, der außerordentlich konzentriert arbeitet. Diese Konzentration scheint mir bei solch einer großen Komposition aber auch von besonderer Bedeutung zu sein.
Poppe:
Ja, das stimmt. Wissen Sie, ich habe das Gefühl, für dieses lange Stück nicht mehr Ideen zu benötigen als für ein kürzeres. Beim Schreiben meiner Opern war es nicht anders: Für die langen Teile brauchte ich weniger Ideen als für die kürzeren. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, woran das liegt. Das hat Morton Feldman so ähnlich auch schon einmal gesagt. Mir wird immer klarer, dass es nicht um die Menge der Ideen geht, sondern um die Aufmerksamkeit − um die Aufmerksamkeit beim Beobachten. Komponieren ist ja immer auch ein Beobachten. Also schaue ich mir mein Material genau an und lausche in die Klänge hinein. Und je größer die Projekte sind, desto geduldiger kann ich mit den Dingen umgehen. "Speicher VI" dauert zwanzig Minuten, aber ich brauche nicht sechsmal so viel Material wie in "Speicher II", das nur drei Minuten dauert, weil ich hier viel mehr ausdifferenzieren kann.
Köhler:
Ich komme nochmals zurück: Wie wählen Sie aus? Warum fangen Sie so an, wie Sie zum Beispiel in "Speicher I" angefangen haben – obwohl Sie beim Schreiben dieses Stückes ursprünglich noch nicht geplant hatten, das Ganze zu einer Großform sich entwickeln zu lassen? Und warum haben Sie gerade da aufgehört, wo sie jetzt in "Speicher VI" aufgehört haben? Es hätte ja auch weitergehen können, in eine andere Richtung...
Poppe:
Form stellt ja genau wie eine Melodie oder ein Klang einen Einfall dar. Formen sind genauso Ideen wie alles andere. Ich habe ein Buch, in dem ich die Stücke skizziere, von deren Klang ich noch gar nichts weiß. Und es gibt andere Stücke, da habe ich eine klare Vorstellung vom Klang, weiß aber nichts über die Form. Das ist ein ganz interessanter Prozess: Form und Klang aufeinander loszulassen, weil beide nicht immer so richtig deckungsgleich sind. Es kann sogar sein, dass die Form gar nicht zum Klang passt. Das gilt auch für "Speicher I". Ich hatte irgendwann diese Idee einer fraktalen Form, die auf allen Ebenen genau über die gleichen Verhältnisse verfügt. Das heißt, irgendwann bildet sich eine Matrix heraus, die mir die Länge eines Formteils vorgibt und die die Wiederholungen indiziert. In diesem Moment vollziehen sich die Entscheidungen. Natürlich könnte ich die Form im Laufe der Arbeit auch ständig verändern, mir ist aber wichtig, dass ich einer einmal getroffenen Entscheidung auch folge. Das heißt: Irgendwann steht einmal mein Formschema fest. Ich kann es gegen Ende des Stückes nicht mehr verlängern, da es durch die Form vorgegeben ist.
Köhler:
Wie verhält sich das mit den Feldmanschen Streichquartetten? Findet sich darin eher ein wildwüchsiges Entwickeln wie in einem Naturprozess? Wie würden Sie Form dort beschreiben?
Poppe:
Die Feldmanschen Streichquartette sind einzigartige Stücke, die mich persönlich stark beeinflusst haben – auch wenn man das meiner Musik nicht unbedingt anhört. Ich war von Feldmans Aufmerksamkeit im Arbeiten mit kleinen Bausteinen immer sehr fasziniert – weniger von der Langsamkeit. Im Grunde ist vieles von dem, was ich in den 1990er Jahren gemacht habe, ein schneller Feldman – ein Feldman auf der Autobahn gewissermaßen. Ich finde, dass die Kompositionen von Morton Feldman eine sehr beeindruckende Großform besitzen. Wir haben als Studenten sehr viele Diskussionen darüber geführt, in wie weit Feldman seine Formen vorausberechnet hat oder nicht. Ich glaube, da gehen die Meinungen heute immer noch weit auseinander. Letzten Endes spielt das aber auch keine Rolle. Ich finde schon, es gibt in seinen Werken unheimlich interessante Verhältnisse. Und: Es gibt ganze Seiten, die nach einer Stunde wortwörtlich wiederholt werden. Da muss man im Grunde unheimlich aufmerksam zuhören. Auf einen bewussten Eingriff des Komponisten deutet auch die Tatsache hin, dass die Stücke gegen Ende immer einfacher, immer eintöniger werden. Nehmen wir zum Beispiel das Zweite Streichquartett, das am Anfang sehr schnell ist, für Feldman-Verhältnisse unheimlich enge und dicht verzahnte Motivverhältnisse hat und am Ende nur noch mit halben Noten agiert – eine halbe Stunde nur diese halben Notenwerte! Hier habe ich gelernt, wie man eine Form im Auge behält.
Köhler:
Abschließende Frage: Woher rührt der Titel "Speicher“?
Poppe:
Ein Speicher ist ein Aufbewahrungssystem. Der Komposition vorausgegangen sind die Kompositionen "Schrank" und "Koffer". In all diesen Stücken geht es darum, Ordnung in etwas zu bringen, was zunächst in Unordnung war. "Speicher" ist ein Ordnungssystem, das mir erlaubt, die verschiedensten Ideen, die im Verlaufe eines langen Erarbeitungsprozesses auf mich einströmen, miteinander zu verzahnen und in eine große Form zu gießen.
Köhler:
Und "Speicher“ wiederum rekrutiert sich aus vielen kleineren Unterstücken...
Poppe:
..."Unterspeicher" gewissermaßen. Die Komposition besteht aus sechs Teilen und jeder dieser sechs Teile ist wiederum in sechs Teile gegliedert, die bezüglich ihrer Längen und Proportionen das gleiche Verhältnis zueinander haben wie die sechs Überteile. "Speicher I" wie auch "Speicher V" und "Speicher VI" haben bis zur untersten Zellenebene die gleichen formalen Verhältnisse wie die einzelnen Teile dieses achtzigminütigen Speicherzyklus zueinander. Das mag sich akademisch anhören, war für mich aber ein ganz interessanter Beobachtungsprozess. Ich vermochte zu erfahren, dass diese verschiedenen Wiederholungen und Veränderungen, diese unterschiedlichen Verhältnisse in den unterschiedlichen formalen Konstellationen, ganz andere Wahrnehmungsaspekte evozieren.
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- Enno Poppe, Speicher I-VI für großes Ensemble
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