"von der Wiege bis zum Graab", ein Lebenszyklus, und, wie der von Adolf Wölfli(1) geborgte Titel nahelegt, eine fiktive Reise, eine Kopfreise: "Eine natuhrvohrschende Reise, mehr oder weniger über die gantze Eerde."
Die Donau – auch vor der Quelle und hinter der Mündung, in ihren flussfremden Momenten – ist das instabile Gebiet, das bereist werden soll, mit dem Klavier als Vehikel und als Passagier seiner selbst zugleich.
Wäre das Buch der Bücher europäischen Ursprungs, wäre der kleine Moses vor Odessa weinend in einem Klavier treibend entdeckt worden, Eisenstein hätte seine Auffindung als Gegenschuss zum "Kinderwagen, die Treppe herabsteigend" gezeigt.
Das Klavier ist Wiege und Bahre, Wanne und Sarg, ist Bett – und als Bett nichts weniger als Alles. Im Bett werden wir gezeugt und geboren, zeugen und gebären darin, und legen uns zum Sterben hinein. Vor allem aber: wir schlafen darin, das halbe Leben.
Ankömmlinge und die, die sich entfernen – um woanders Ankömmling zu werden, und sei es nur für eine Nacht im Land der Träume – kommen in Kisten. Wiegen, Betten, Särge, Kähne, Schiffe, Waggons, Autos, etc.: Reisegeräte und -maschinen für alle bereis- und erreichbaren Elemente, Aggregat- und Bewusstseinszustände.
Das Klavier ist das Reiseinstrument schlechthin: Es hat Beine, Räder, heißt Flügel, hat Schiffsform ebenso wie die eines Reittieres oder einer Last-Frau. Ihr Rücken, ihre Hüften werden zum Modell für Reiseausrüstungen, die ganze Auto-Mobilität ist von dieser Infrastruktur abhängig, von dieser gestreichelten, geschlagenen Kruppe.(2)
Es kann gehen, fahren, schwimmen und fliegen, und führt damit einen Overkill an vorgetäuschter Mobilität vor.
Seine subaqualen Qualitäten zeigt es als Muschel, die, öffnet sie ihren Deckel, ihren Musikmuskel herausstreckt und ihre schönen Klangperlen zeigt, oszillierend zwischen Kinderszenen und Trauermärschen.
In Dir, du Ebenholz-Meer, ist blendend hell ein Traum verborgen von Segeln, Rudern, Wimpeln und Masten:
Es träumt davon zu reisen oder gar selbst Schiff zu sein. Allerdings ein Schiff, das man nicht sieht, das, halb hinter dem Horizont, keinen Körper hat, nur durch seine Extremitäten definiert ist. Oder ist es der Schwarze Ozean selbst (einige Zeilen später)? Tauchen will ich mein Rausch-verliebtes Haar in diesen Schwarzen Ozean,...(3)
Dann ist es nicht nur der schwankende Kahn, der die Flussreise als Passagier des Wassers vollbringt, sondern auch das Becken, der Behälter, in den alles geschwemmt wird, der sich auflädt mit Kultursedimenten, mit deren Energie es wieder die Metempsychose oder die Organwanderung "von der Wiege bis zum Graab" vollbringen kann. Als Kulturgeschichte ebenso wie als biologische Genese oder als chymische Hochzeit – emblematisch, von falschen Behauptungen gesättigt.
Fußnoten:
(1)"Von der Wiege bis zum Graab" (1908-1912), 9 Bücher, ca. 3.000 Seiten.
(2)Paul Virilio, "Der negative Horizont", Hanser
(3)Charles Baudelaire, "Die Blumen des Bösen"
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