Lise Cristiani war eine Attraktion. Ein Konzert der Cellistin ließ sich natürlich auch Felix Mendelssohn Bartholdy nicht entgehen als sie 1845 im Gewandhaus in Leipzig spielte. Offenbar beeindruckte Cristianis Auftritt Mendelssohn Bartholdy so stark, dass er sich inspiriert fühlte, für sie zu komponieren. Das "Lied ohne Worte" hat all die Eigenschaften, die laut vieler zeitgenössischer Zeitungsartikel auch Cristianis Spiel hatte: gesanglich, sanft, eher leise und langsam und fast ausschließlich auf hohen Saiten. Cristiani wählte dieses Repertoire und Auftreten bewusst, um ihre Grenzüberschreitung als Cello spielende Frau für das Konzertpublikum etwas abzumildern, schreibt Katharina Deserno.
Von Lise Cristianis Grenzüberschreitungen profitierten nachfolgende Generationen von Musikerinnen. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Guilhermina Suggia als Cellistin auftrat, war das kein Skandal mehr – aber normal war Suggias Karriere noch lange nicht. Immer wieder wunderten sich Kritiker beispielsweise, dass die Frau am Cello einen sehr kraftvollen, also eigentlich männlichen, Ton produziere. Die hergebrachten Vorstellungen von männlicher Kraft und weiblichem Spiel widersprachen sich also immer noch. Katharina Deserno nimmt in ihrer Studie viele Details und Quellen aus dem Leben der beiden Cellistinnen unter die Lupe, um einerseits die Vorurteile, Bilder und Widerstände, mit denen sich die Musikerinnen konfrontiert sahen, aufzudecken. Und um andererseits die neuen Wege zu zeigen, die die Cellistinnen beschritten. Suggia war beispielsweise die erste Cellistin, die sich in Zeitschriften-Artikeln theoretisch über das Cello-Spiel äußerte und damit als Autorität anerkannt wurde. Ihr hohes Ansehen als Künstlerin zu ihren Lebzeiten steht allerdings in einem deutlichen Gegensatz dazu, welcher Platz ihr rückblickend in der Musikgeschichte eingeräumt wird – nämlich ein ganz kleiner. Heute haben nur die wenigsten schon einmal von Guilhermina Suggia gehört.
Deserno blickt in ihrer Studie nicht nur auf die Biographien von Cristiani und Suggia, sondern sie beschäftigt sich auch mit Aspekten, die für viele Cellistinnen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert von Bedeutung waren. Wie zum Beispiel die Ausbildungsmöglichkeiten für Musikerinnen, die Rolle der Väter oder die Korrelation zur Frauenbewegung. Sie beschreibt außerdem, wie viel freier als Frau beispielsweise Jacqueline du Pré ihre Karriere als Cellistin angehen konnte, aber zugleich auch ihre Auftritte Auseinandersetzungen mit Weiblichkeitsbildern waren.
Die Schlüsse, die Deserno aus ihrer Untersuchung zieht, bleiben nicht bei der Aufschlüsselung des historischen Kontextes stehen. Sie zeigt an einer Fülle an Material, Quellen und Fakten auf, dass Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer sind oder zu sein haben, veränderbar sind – bis heute. Und dass ganz aktuell auch jede Instrumentallehrerin, jeder Lehrer verantwortlich dafür ist, welche Geschlechterbilder sie oder er reproduziert. Ein wichtiges Buch – nicht nur für Cellistinnen!
Buch-Tipp vom 1.8.2018 aus der Sendung SWR2 Cluster