Routine und Tradition - Manierismen und die Konzentration auf die Hauptsache: Zwei Gegensatzpaare bestimmten das Denken und das musikalische Handeln von Pierre Boulez. Schlamperei war für ihn ein Unding, das Wesentliche immer im Fokus.
"Sprengt die Opernhäuser in die Luft"
In einer Zeit des Auf- und Umbruchs, als der Zustand der Gesellschaft grundlegende Reformen verlangte, sah er sich nach dem Zweiten Weltkrieg als junger Mensch umfassend herausgefordert. "Aufbruch" war ein Stichwort für viele in seiner Generation, Boulez war unter ihnen immer einer der konsequentesten und reflektiertesten und zugleich einer der radikalsten. Vielfach zitiert wurde seine 1967 erhobene Forderung, man möge doch die Opernhäuser in die Luft sprengen - sie wandte sich gegen musikalische Unzulänglichkeiten und zielte auf grundlegende ästhetische Veränderungen. Der Schweizer Polizei reichte diese Formulierung, um Boulez über 30 Jahre lang als potentiellen Terroristen in den Akten zu führen – sie verhaftete den längst renommierten und inzwischen älteren Herrn schließlich 2001 nach einem Dirigat in Basel; filmreif-spektakulär, um 4.00 Uhr morgens.
Schonungsloser Kritiker
"Sprengkraft" hatte in jedem Fall dessen konsequentes und sensibles Komponieren. Zugleich war Pierre Boulez ein spekulativer Theoretiker und Musikdenker, vor dessen schonungsloser Kritik kein Musiker aus Geschichte oder Gegenwart sicher sein konnte. Skrupulös kümmerte er sich als Dirigent um möglichst authentische Interpretationen. Und als Kulturmensch: um die Bedingungen der Möglichkeit von alle dem, um die musikalischen Institutionen.
Dirigent von Weltruhm
Als Chef der New Yorker Philharmoniker reformierte Boulez die Programmgestaltung, er war Chefdirigent in London und zu Gast bei unzähligen Festivals und Orchestern weltweit. Legendär wurde seine Interpretation von Wagners "Ring" in Bayreuth Ende der 1970er Jahre, eine Wagner-Vorstellung, weit weg vom mythischen Nebel und weihevollen Tempeldienst.
Prägende Figur des französische Musiklebens
Für das französische Musikleben des späteren 20. und frühen 21. Jahrhunderts war und ist Pierre Boulez die prägende Figur. Er gründete das Ensemble Intercontemporain, das erste institutionelle Ensemble für Neue Musik, und im Auftrag von Georges Pompidou das legendäre elektronische Studio IRCAM. Auch brachte er in den 80er Jahren die Pariser Cité de la Musique auf den Weg.
Karrierestart bei den Donaueschinger Musiktagen
Bei den Donaueschinger Musiktagen 1951 entdeckte die Musikwelt den Komponisten Boulez, als dessen "Polyphonie X" dort zur skandalträchtigen Uraufführung kam; es war zugleich der Beginn einer Verbindung des Komponisten zum Südwestfunk, später: Südwestrundfunk in Baden-Baden und zu seinem Orchester, die bis zu Boulez' Tod nicht abreißen sollte. Die Musik in diesem frühen und in zahlreichen weiteren Werken schien in neue syntaktische und semantische Zusammenhänge zu geraten, Boulez befreite sie von erzählerischen Strukturen, um dem Gestischen Raum zu geben. Er erfand immer neue Ausdeutungen und Varianten von einzelnen Ideen, arbeitete seine eigenen Werke immer wieder um, war dem Klangsinn unermüdlich auf der Spur.
2015 feierte man vielerorts in Europa den 90. Geburtstag des Komponisten, Dirigenten, Musikdenkers und Institutionengründers Pierre Boulez. In Baden-Baden, das neben Paris zu Boulez' Heimatstadt wurde, erklangen dazu abschließend die "Notations" – ein Werk, das in der fulminanten Orchesterbearbeitung des Komponisten dabei ist, den Weg ins allgemeine Konzertrepertoire zu finden.