Flucht vor den Antisemiten nach Deutschland
Der Kopf fast so nah an den Tasten wie die Hände selbst, dieses Bild bot sich dem Publikum bei den Auftritten des Pianisten Anatol Ugorski. Geboren wurde er am 28. September 1942 in Rubzowsk, nahe der Grenze zum heutigen Kasachstan. Nachdem seine Tochter Dina von nationalistischen Antisemiten aufgrund ihres jüdischen Glaubens bedroht wurde, floh die Familie 1990 nach Deutschland.
Dort, in Berlin, holte die Schriftstellerin Irene Dische sie aus der Flüchtlingsunterkunft und stellte den Kontakt zum Label „Deutsche Grammophon“ her. Ein großer Freund von Mikrofonen war Ugorski zu diesem Zeitpunkt nicht, Aufnahmen waren in der Sowjetunion ungewöhnlich und er dachte immer, er habe „eine sehr große Angst vor dem Mikrofon [...]. Ich war psychisch gelähmt“.
„Wieso spielt der so gut?“
Besonders das Label „Deutsche Grammophon“ forderte einiges an Überwindung, erzählt er 1993 in der S2-Kultur-Sendung „Zur Person“, da dort Größen wie Herbert von Karajan oder Krystian Zimerman vertreten waren. Doch die Aufnahme in Hamburg war ein Erfolg und nicht nur bei seinen Live-Auftritten, sondern auch bei Studioaufnahmen zeigte sich Ugorski von einer besonderen Seite.
Die Aufnahmen hörte er „extrem selten, fast nie“. Doch bei den seltenen Gelegenheiten war er immer von sich selbst überrascht, und fragte: „Wieso spielt der so gut?“
Bekannt wurde Ugorski vor allem für seine Beethoven-Aufnahmen. Beethoven, so Ugorski, habe den Begriff der Genialität erfunden und eingeführt. „Diese Kluft zwischen Gegenwart und das Schaffen von dem Künstler ist nie, glaube ich, so groß wie bei Beethoven. Und in diesem Sinne ist er schon der Avantgardistischste“, so Ugorski.
Avantgarde auf sowjetischen Bühnen
Die Avantgarde hatte auch für Ugorski eine besondere Bedeutung. So brachte er die Musik von Olivier Messiaen, Arnold Schönberg und Alban Berg in der Sowjetunion erstmals auf die Bühnen. Die Noten erhielt er dabei von befreundeten westlichen Pianisten-Kollegen bei Besuchen oder per Post, die jedoch laut Ugorski sehr unzuverlässig war.
Kopierer oder ähnliches standen ihm in der Sowjetunion nicht zur Verfügung, wenn er Noten kopieren wollte „machte ich es mit meiner eigenen Hand. Es kostet sehr viel Zeitaufwand und Mühe, aber Gewinn ist enorm“.
Selbstbewusst und bodenständig zugleich
Ungeachtet von Bezeichnungen wie „Kauz am Klavier“ war Ugorski sich immer seines eigenen Genies bewusst: „Ich bin eigentlich ein Beobachter, für mich selbst. Meinen Wert wusste ich schon und weiß auch heute für mich selbst, ich weiß meine Stärke, ich weiß meine Schwäche und es ist unabhängig davon, was die anderen sagen.“
Doch auch wenn der Weg zu seinem Erfolg mit einigen Hürden verknüpft war, hatte Anatol Ugorski auch Glück als Pianist: „Man kann sagen, meine Karriere ist irgendwie gelungen. Aber ich bin eigentlich der Typ, der überhaupt nie etwas für meine Karriere gemacht habt. Ich habe nie etwas abgelehnt, [...] die Initiativen waren immer von draußen.“