Leonard Bernsteins großer Klassiker geht wieder auf Tour
Maria, Somewhere, Tonight, America – nahezu jede Nummer, die Leonard Bernstein für „West Side Story“ schrieb, hat ein Leben über das Stück hinaus. Uraufgeführt 1957 in New York, ist das Musical heute auf den Bühnen der Welt zu Hause.
„Die ‚West Side Story‘ hat so viele Jahrzehnte überdauert, weil sie das Menschliche in jedem von uns anspricht“, glaubt der amerikanische Regisseur Lonny Price, „die Macht der Liebe“. Price hat sowohl am New Yorker Broadway als auch im Londoner Westend große Musical-Klassiker auf die Bühne gebracht. Nun wendet er sich einem Werk zu, das das Genre Musical in den 1950ern neu definierte
Am 14. Dezember 2022 feierte am Deutschen Theater in München Prices Neuinszenierung der „West Side Story“ Premiere. Seither befindet sich die Produktion auf Tour. Nach Stationen in Essen, Zürich und Wien, kommt die Produktion am 7. Februar nach Baden-Baden. Weitere Stationen unter anderem in Frankfurt, Lausanne, Dublin, Dubai und Paris sind geplant.
Ein alter Hut ist das Stück auch 65 Jahre nach der Uraufführung nicht, meint Price: „Obwohl die Geschichte im New York City der 50er-Jahre spielt, ist sie so aktuell wie nie zuvor. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen die ‚Anderen‘ gibt es auch heute traurigerweise noch. In vielen Ländern sind die sogar auf dem Vormarsch.“
Leonard Bernsteins unvergessliche Musik in den „Sinfonischen Tänzen aus West Side Story“
Rassismus, Halbstarke und verbotene Liebe im New York der 1950er-Jahre
Im Januar 1949 pitcht Regisseur Jerome Robbins seinem Freund Leonard Bernstein die Idee, Shakespeares „Romeo und Julia“ als Liebesgeschichte im modernen New York ihrer Zeit zu adaptieren. Dieser notiert in sein Tagebuch:
Den 31-jährigen Bernstein, der sich bereits als Komponist und Dirigent einen Namen gemacht hat, reizt die Idee, eine zeitgemäße Tragödie mit den Stilmitteln des Musicals zu erzählen. Vier Tage nach dem Telefonat beauftragt er den Autor Arthur Laurents, das Buch zu schreiben.
Mehrere Jahre feilen die Theatermacher an ihrer Idee. Unterdessen werden in Manhattan ganze Wohnblocks abgerissen, um Platz für prestigeträchtige Bauprojekte wie das Lincoln Center, neue Heimat der Metropolitan Opera, zu machen. Die Wohlhabenden vertreiben die Arbeiterschicht, verschiedene ethnische Gruppen, die sich in unterschiedlichen Vierteln der Stadt angesiedelt hatten, stoßen aufeinander. Der kulturelle Schmelztigel in New York ist hochexplosiv.
Gleichzeitig formierte sich innerhalb der Arbeiterklasse eine neue Jugendkultur, die sich von den Idealen ihrer Eltern lossagte. James Dean setzte ihr im Film „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) ein Denkmal. Die Macher der „West Side Story“ nutzten diese Verschiebungen in ihrem Stück. Aus dem jüdisch-katholischen Konflikt der Ursprungsidee wurde so ein Bandenkrieg zwischen zwei Jugendgangs: den irisch-amerikanischen Jets und den puerto-ricanischen Sharks.
Der Erfolg der „West Side Story“ überschattet Bernsteins andere Werke
Wie bei keinem Musical zuvor (und nur wenigen danach) gelingt mit „West Side Story“ ein engmaschiges Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Musik und Tanz. In seiner Partitur zitiert Bernstein gekonnt die Musik, die er auf den Straßen New Yorks hört: Kühler, von unaufgelösten Dissonanzen beherrschter Jazz beherrscht die Themen der Jets, aggressive lateinamerikanische Rhythmen kündigen die Sharks an, dazwischen knospt die Liebe zwischen Tony und Maria in lyrisch-sinfonischen Passagen.
Das Musical überzeugt Kritik und Publikum. Die mit zehn Oscars prämierte Verfilmung trägt 1961 den Erfolg um die Welt. Für Bernstein, der Ende der 1950er-Jahre zum Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker wird, bleibt „West Side Story“ sein größter Erfolg und wird damit sein großer Fluch.
Als Komponist strebt Bernstein zeitlebens im ernsten musikalischen Fach nach vergleichbarer Anerkennung. An die Popularität seines Opus Magnum können seine Opern, Sinfonien und Oratorien allerdings nie anknüpfen.
Lange lehnt es Bernstein daher auch ab, seine „West Side Story“ selbst zu dirigieren. Erst 1984, als international gefeierter Mahler- und Beethoven-Dirigent, dirigiert er eine Einspielung mit Opernstars wie Kiri Te Kanawa, José Carreras und Marilyn Horne. Es ist ein später Versuch, sein Musical von der Unterhaltungsmusik in die ernste Musik zu überführen.
Rachel Zegler und Ansel Elgort singen das Balkonszenen-Duett „Tonight“ in Steven Spielbergs Hollywood-Neuverfilmung
Auch 65 Jahre nach der Uraufführung ist der Zauber ungebrochen
Fremdenhass, das Aufbegehren der Jugend und die bittersüße Melancholie der ersten Liebe. Die Themen, die im Stück verhandelt werden, bleiben auch 65 Jahre nach der Uraufführung so universell und aktuell wie am ersten Tag.
Die „West Side Story“-Melodien sind als Sinfonische Tänze zu beliebten Klassikern im Konzertsaal geworden, Steven Spielbergs Neuverfilmung hat sie erst 2021 wieder populär gemacht.
Die Erfolgsgeschichte geht weiter, auch wenn Bernstein damit vielleicht nicht glücklich gewesen wäre. Auf die Frage, ob der Stoff seines Musical nicht veraltet sei, antwortete er am Ende seines Lebens: „Ich wünschte, er wäre es – unserer Welt zuliebe.“