Amerikanische Rockmusik, deutsche Texte und ein anarchischer Live-Auftritt
Geboren am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius hatte der Berliner nur einen Traum: Er wollte Musiker werden. Nach 15 erfolgreichen Jahren mit dem Musikerkollektiv Ton Steine Scherben folgt eine ebenso erfolgreiche Zeit als Solokünstler. Am 20. August 1996 starb Möbius, der inzwischen den Künstlernamen Rio Reiser angenommen hatte, mit nur 46 Jahren. Er sollte einer der einflussreichsten deutschsprachigen Musiker aller Zeiten bleiben.
Als Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben 1970 ihren ersten Live-Auftritt auf einem Festival auf der Insel Fehmarn abliefern, ist das der Beginn einer neuen Ära für die deutschsprachige Musik: Beim ikonischen Love and Peace-Festival, bei dem am gleichen Tag Jimi Hendrix das letzte Konzert seines Lebens spielt, präsentiert die Band erstmals ihren revolutionären „Agitrock“ einem größeren Publikum.
Zerstörung als bleibender Eindruck
Deutsche Texte zur amerikanischen Rockmusik? Politische Parolen, Aufruf zur Revolte? All das verhilft Ton Steine Scherben und ihrem Frontmann Rio Reiser schnell zu Kultstatus, wenngleich beim Konzert auf dem „Love and Peace“-Festival nur noch rund 5.000 Besucher*innen anwesend sind.
Aufgrund der schlechten Organisation des Festivals ruft Reiser das Publikum dazu auf, das Gelände zu verwüsten. In Kombination mit dem Song „Macht kaputt was euch kaputt macht“ hinterlässt diese Botschaft bleibenden Eindruck und lässt Reiser und seine Band zu Ikonen werden.
Das Private ist politisch, aber das Individuum steht im Zentrum
Geprägt von Subjektivismus, Frustration und dem kollektiven Wunsch nach Freiheit liefern die „Scherben“ den Soundtrack zu den Revolten der frühen 1970er-Jahre. Der Band um Songschreiber Rio Reiser ist es wichtig, dass ihre Lieder einfach gehalten und in Alltagssprache formuliert sind. Denn darin bestünde laut Reiser die Schlagkraft eines Liedes: Es ist nur dann stark, wenn viele es singen können.
Im Fokus steht dabei eine Parole, die die Scherben von der US-amerikanischen Feministinnenbewegung der späten 1960er Jahre übernehmen: „The personal is political“ — das Private ist Politisch. Heißt in diesem Fall: Die Songs der Band sind zwar politisch, aber das Zentrum der Songs bildet stets das Individuum. Mit ihrer Musik schaffen Ton Steine Scherben auf diese Weise nicht nur Soundtracks für die linke Szene, sondern auch ein Leitbild dafür, wie Kunst und Aktivismus miteinander verschmelzen können.
Reiser ist Inspiration und Muse für zahlreiche deutschsprachige Künstler*innen
Zahlreiche Bands und Künstler*innen aus dem deutschsprachigen Raum nennen Rio Reiser heute als Inspiration für ihr musikalisches Schaffen. Der Einfluss seiner Kompositionen ist auch heute, Jahrzehnte später, noch in vielen Songs hörbar.
Bands wie Selig, Wir sind Helden oder Annenmaykantereit greifen auf ihre ganz eigene Art den Geist von Rio Reiser und Ton Steine Scherben auf und übertragen ihn in eine andere Zeit. Was sie alle miteinander verbindet: Ein feines Gefühl für Texte, Authenzität, Emotion und eine große Portion Rotz, um sich vom glattgebügelten Sound der breiten Masse abzuheben.
Podcast „Musik ist eine Waffe“ – „Ton Steine Scherben“ inspirieren noch immer die Musikszene
Reiser und die Scherben als Teil der DNA deutschsprachiger Musik
In zahllosen Songs sind Liedzeilen aus Reisers Feder mittlerweile festgehalten und neu aufgelegt, teilweise wurden ganze Lied-Fragmente zu neuen Songs gesampled.
So ist beispielsweise das Gitarrenriff des Welthits „Song 2“ der britischen Band Blur identisch mit dem aus dem Scherben-Song „Warum geht es mir so dreckig“. Musiker wie Die Toten Hosen, K.I.Z, Casper und viele andere lehnen textlich ganze Songs an Reisers Kompositionen an.
Außerdem gibt es mehrere Tribute-Alben, in denen erfolgreiche Künstler*innen ihre liebsten Ton Steine Scherben-Songs neu interpretieren. Reiser und Ton Steine Scherben sind so bis heute tief in der DNA der deutschen Musikszene verwurzelt.
Reisers Message ist auch rund 40 Jahre später noch brandaktuell
Durch die Flüchtlingskrise 2015 und das Erstarken der politischen Rechten geht ein Ruck durch die Gesellschaft, der auch an der Musik nicht spurlos vorbei geht. Während der popmusikalische Mainstream sich mit Statements eher bedeckt hält, nutzen wie zu Reisers Zeiten Rockbands ihre Bühne, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Das Erstarken der rechtspopulistischen Partei AfD verstärkt diesen Effekt in den Folgejahren umso mehr.
Die Chemnitzer Band Kraftklub, die sich 2010 gründet und in ihrer Musik die Alltagssprache der Jugendkultur mit politischen Themen ganz im Stile Reisers verknüpft, benennt gar ihr 2017 erschienenes Studioalbum „Keine Nacht für Niemand“ in Anlehnung an das Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“.
Auch Punkbands wie Feine Sahne Fischfilet tragen den Geist Reisers weiter: Ihr Einsatz gegen Rechtsextremismus und ihre Nähe zu gesellschaftlichen Randgruppen spiegeln Reisers Haltung von damals wieder, wenn hymnische Songs auf politische Wut treffen – wie einst bei den „Scherben“.
Kollektive Ekstase bei Livekonzerten – Wie einst bei Ton Steine Scherben
Es ist gerade der deutschsprachige Punk, der heute an Reiser erinnert: Das Privileg, vor vielen Menschen musizieren zu können, ist kostbar und will bedacht genutzt werden, das wusste schon Rio Reiser. Das Schreiben von Hymnen für ganze Generationen junger Menschen ist immer auch mit Erwartungen und Druck verbunden, die balanciert werden wollen.
Jungen deutschen Bands wie Team Scheisse, Jennifer Rostock oder Swiss & Die Andern gelingt genau das: Sie erzeugen bei ihrem Publikum ein Zusammengehörigkeitsgefühl und können gleichermaßen mit ihrer emotionsgeladenen Musik begeistern.
Die aufgestaute Energie einer frustrierten Generation entlädt sich bei Konzerten der Bands in kollektive Ekstase – so in etwa muss sich das 1971 in Fehmarn angefühlt haben.
Eigene Labels, um den Druck der kommerziellen Musikbranche zu umgehen
Kleine, aber einflussreiche Indie-Labels wie „Audiolith Records“ oder „Grand Hotel van Cleef“ haben ihre Ursprünge alle abseits des Mainstreams. Weil Künstler*innen keine geeignete Plattform für ihre Musik finden, eher unkonventionellere Sounds realisieren und sich ihre Kunst nicht von Major-Labels vorschreiben lassen wollen, versuchen sie sich selbst als Verleger*innen. Einer der Wegbereiter für diese Methode? Rio Reiser.
Um Einflüsse aus der kommerziellen Musikbranche zu vermeiden, gründeten die „Scherben“ 1971 ihr eigenes Plattenlabel, auf dem sie fortan ihre Alben veröffentlichten.
Indie-Labels sind heute Gang und Gäbe
Die „David Volksmund Produktion“ war eines der ersten Independent-Labels in Deutschland und bis heute Vorbild für zahlreiche Musiker*innen. Was damals noch eine Seltenheit war, ist heute gängige Praxis.
Um unabhängiger in Produktion, Distribution, Marketing und Stilrichtung sein zu können, haben mittlerweile zahlreiche deutsche Bands ihre eigenen Labels gegründet. So veröffentlichen Die Toten Hosen ihre Musik bereits seit den 1990er Jahren auf dem von ihrem Manager gegründeten Label „Jochens kleine Plattenfirma“, das mittlerweile auch Musik von Feine Sahne Fischfilet oder der Antilopen Gang produziert.
Der wohl einflussreichste Ideengeber für Musik in deutscher Sprache
Wenn man sich heute in der alternativen Szene erfolgreiche Bands wie Wanda, Adam Angst oder das Berliner Duo Milliarden anhört, dann erinnert die Rotzigkeit und der Weltschmerz ihrer Songs an die Musik von Rio Reiser.
Obwohl mehrere Jahrzehnte musikalischer Entwicklung zwischen Reiser und dem Deutschrock von heute liegen, wirken Reisers Werke nicht altbacken – im Gegenteil: Sie sind zeitlos und scheinen stellenweise gar brandaktuell. Die Auseinandersetzung mit Reisers Werk zeigt, wie Generationen von Künstler*innen miteinander im Dialog stehen: Jede Neuinterpretation fügt Reisers Erbe neue Facetten hinzu.
Ton Steine Scherben und Reisers spätere Solokarriere waren kommerziell nie die erfolgreichsten Projekte in Deutschland, aber sie zählten zu den wohl einflussreichsten Ideengebern für Musik in deutscher Sprache. Rio Reiser ist seit fast 30 Jahren tot. Doch in der deutschsprachige Rockmusik der letzten Jahre ist sein Sound lebendiger denn je.