Young Thug droht ein Leben hinter Gittern
Die Liste der Anklagepunkte gegen Young Thug und 14 weitere Mitglieder seiner Crew Young Stoner Life ist lang: Erpressung, illegaler Waffen- und Drogenbesitz, Raubüberfall, schwere Körperverletzung, Auftragsmord.
Seit Mai 2022 sitzt der Grammy-Gewinner in Haft. Nun beginnt im Bundesstaat Georgia der Prozess. Um zu beweisen, dass die Angeklagten Mitglieder einer kriminellen Straßenbande sind, fährt die Staatsanwaltschaft schweres Geschütz auf: Sie führen unter anderem die Songtexte Young Thugs als Beweismittel an. Gelingt es ihr, droht dem Rapper eine lebenslange Haftstrafe.
Wieviel Wahrheit steckt in einem Rap-Song?
Die Prahlerei über Drogen- und Waffenmissbrauch gehört zum guten Ton der Straße – das ist im US-Gangerrap nicht anders als im Deutschrap. Doch die Staatsanwaltschaft betrachtet die Schilderung von Straßenkriminalität in den kreativen Ergüssen der Gang nicht allein als künstlerische Attitüde, sondern als eine Art Beichte über mutmaßlich begangene Verbrechen.
So hat sie sich die Mühe gemacht, Songtexte, Musikvideos und Social Media Posts der YSL-Crew nach Schilderungen von Straftaten zu durchforsten, die ihre Anklagepunkte untermauern könnten. Dass sie die gefunden hat, ist keine Überraschung.
„Ich habe ihnen gesagt, abzufeuern“
Zum Beispiel zitiert die Anklage den Song Anybody von 2018. „Ich habe nie jemanden getötet aber ich habe was mit dem Körper zu tun“, rappt Young Thug darin, „ich habe ihnen gesagt, hundert mal abzufeuern.“
Die Staatsanwaltschaft bezieht den Text zwar nicht auf eine konkrete Straftat. Doch die geschworene Jury, die am Ende des Prozesses über Schuld und Unschuld urteilen muss, sollte den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen: Beichtet Young Thug in dem Song etwa, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben?
Genaue Zahlen liegen im Dunkeln
So haarsträubend das klingen mag: Es ist in den USA keine Seltenheit, dass Rap-Lyrics vor Gericht gegen ihre Urheber*innen verwendet werden. Wie häufig genau und wie stark jeweils die Auswirkung auf die Urteilsverkündigung ist, bleibt aber im Dunkeln.
Auch, weil selten die großen Stars mit Plattenfirma und Instagram-Reichweite im Rücken auf der Anklagebank sitzen, sondern eher der unbekannte Underground-Rapper von der Straße.
Snoop Dogg musste sich vor Gericht den eigenen Song anhören
Doch es gibt einige prominente Fälle, die Schlagzeilen gemacht haben. 1993 drohte Snoop Dogg eine lebenslange Haftstrafe, weil ihm ein Mord angelastet wurde.
Während des Prozesses spielte der Staatsanwalt Snoops gerade veröffentlichten Song „Murder Was the Case“ für die Geschworenen, um seine Anklage zu untermauern. Snoop Dogg wurde von den Geschworenen dennoch für unschuldig befunden.
Mac: Wenn Songtexte Gewaltbereitschaft beweisen sollen
Besonders ungeheuerlich ist der Fall von No Limit-Rapper Mac. 2001 wurde er nach einer Schießerei zu 30 Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.
Während des Gerichtsverfahrens gab es kaum Hinweise darauf, dass er die Tat tatsächlich begangen haben könnte. Doch die Staatsanwälte verwendeten Macs Rap-Lyrics, um das Narrativ eines von Natur aus gewalttätigen Individuums zu festigen. 2021 wurde er für einen Mord, den wohl nicht begangen hatte, begnadigt.
Grammy-Gewinner Young Thug ist ein Rap-Schwergewicht
Mit dem Verfahren gegen die YSL-Crew wurde nun erstmals die breite Öffentlichkeit in den USA auf diese Gerichtspraxis aufmerksam. Denn mit dem Grammy-Gewinner Young Thug steht einer der ganz großen Namen der US-Rapszene vor Gericht.
Nicht nur die Anwälte von Young Thug wehren sich dagegen, dass die Staatsanwaltschaft dessen Lyrics gegen ihn verwenden will: Der Widerstand formiert sich inzwischen auf breiter Front.
#blackartontrial: 50 Cent, Alicia Keys und co. solidarisieren sich
Unter dem Hashtag #blackartontrial schlossen sich im Herbst 2022 große Persönlichkeiten des US-Musikbusiness einem offenen Brief in der New York Times an: 50 Cent, Alicia Keys, Megan Thee Stallion, Drake und viele mehr.
Angestoßen hatte die Petition das Major-Label Warner. Auch Universal und Sony haben unterzeichnet, ebenso Unternehmen wie Spotify, TikTok und Youtube.
„Mit beunruhigender Häufigkeit“, so die Unterzeichnenden, käme es vor, dass kreative Äußerungen im Rap vor Gericht gegen die Künstlerinnen und Künstler verwendet würden.
„Rapper sind Storyteller“
Wer Rap-Lyrics vor Gericht als Beweismittel führe, verletze das Prinzip der Kunstfreiheit, so der Vorwurf. „Rapper sind Storyteller“, heißt es in dem Brief. Sie würden in ihren Texten neue Welten erschaffen, in denen es Helden genauso wie Schurken gäbe.
Die Szene ist sich einig: Rap ist Kunst, genau wie jede andere Form von Lyrik oder Prosa. Kreative Ergüsse oder das künstlerische Image eines Menschen dürfen nicht beeinflussen, wie ein Richter eine Faktenlage bewertet.
Alles von der Kunstfreiheit gedeckt?
Auch Young Thug rief dazu auf, sich der Petition anzuschließen. „Meine Musik habe ich immer als Möglichkeit genutzt, mich künstlerisch auszudrücken“, sagte er in einem Statement. „Jetzt sehe ich, dass Schwarzen Künstler*innen diese Freiheit vorenthalten wird.“
Fakt ist, dass es keine andere Kunstform neben Rap gibt, die vor Gerichten derart als Beweismittel für Verbrechen herhalten muss. Es kommt praktisch nicht vor, dass Strafgerichte die Songtexte anderer Musikgenres auf ihren vermeintlichen Wahrheitsgehalt abklopfen.
Schwarze Kunst auf der Anklagebank
Warner nennt Zahlen: Seit den 50er Jahren seien insgesamt vier Fälle aus anderen Musikgenres bekannt, von denen es bei keinem zu einer Anklage gekommen sei. Dem gegenüber stünden über 500 Fälle, in denen Rap-Texte gegen ihre Autorinnen und Autoren verwendet würden.
Rap wird in den USA fast ausschließlich von Schwarzen Künstler*innen produziert. Der Rassismus-Vorwurf ist somit kaum von der Hand zu weisen.
Ist Kreativität ein weißes Privileg?
Der Grund, warum Rap-Lyrics vor Gericht wie heimliche Beichten betrachtet würden? Weil man Schwarzen Menschen grundsätzlich nicht zutraue, zu künstlerischer Abstraktion fähig zu sein, so der Vorwurf.
In einer Songline wie „Just killed a man - put a gun against his head" der Band Queen falle es schließlich auch niemandem schwer, eine künstlerische Fiktion zu erkennen. Jungen Schwarzen Männern aus Problembezirken hingegen, die meistens die Urheber von Gangsterrap sind, würde unterstellt, dass sie für kreative Gedanken gar nicht fähig seien.
New York und Kalifornien lenken ein
Einzelne Bundesstaaten haben sich in der Sache bereits deutlich positioniert. Eine Woche nach der Anklage gegen Young Thug verabschiedete der Senat von New York ein Gesetz, das die Verwendung von Songtexten als Beweismittel einschränken soll.
Unterstützt hatte diesen Vorstoß Rap-Superstar Jay-Z gemeinsam mit anderen bekannten Musiker*innen. Wenige Monate zuvor trat bereits im Bundesstaat Kalifornien ein Gesetz in Kraft, dass die Verwendung von Rap-Texten als Beweismaterial vor Gericht verbietet.
Im Fall Young Thug ist noch alles offen
Das Verfahren gegen Young Thug läuft im Bundesstaat Georgia, wo diese Gesetze nicht gelten. Bereits am ersten Prozesstag zitierte der Richter Teile von Thugs Song „Slime“, da die Bildsprache der Lyrics Rückschlüsse auf dessen Lebensstil zuließen würde.
Ob die Rap-Lyrics tatsächlich das Urteil beeinflussen werden, wird sich erst im Laufe des Verfahrens zeigen, dass bis zu zwölf Monate dauern könnte. Sicher ist, dass das Thema das US-Musikbusiness noch eine Weile beschäftigen wird.