Tyll – Kehlmanns Ausweg aus den Ich-Labyrinthen
Seit seinem Bestseller-Erfolg von 2005, dem historischen Roman "Die Vermessung der Welt", in dem sich auch eine erlesene Gelehrten-Satire verbarg, beobachtet die Literatur-Welt Daniel Kehlmanns weitere Entwicklung mit Staunen und Zweifel. Sie wartet darauf, dass dieser überbegabte Autor, der eleganteste Traumtänzer der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aus seinen ironisch verspielten Ich-Labyrinthen wieder herausfindet, in denen er sich in seinen Romanen der letzten zehn Jahre, etwa "Ruhm" oder "F", verirrt hatte.
Sie allesamt demonstrierten Glanz und Elend dieses gewitzten Fiktionen-Jongleurs und Selbstbespiegelungsartisten: So klug (oft: altklug) und amüsant sich Kehlmanns Texte, lauter trug- und täuschungsreiche Vexier-Kunststückchen, auch lasen, so beunruhigend steril wirkte deren Brillanz. Man merkte: Da versprüht ein ins Funkeln verliebter Alleskönner seinen Glitzerstaub um eine seltsam leere Mitte. Denn Kehlmanns besondere Kunstfertigkeit liegt darin, unentwegt mit einer höheren Welt zu kokettieren, ohne sich auf sie festzulegen, und gelegentlich einen schwindelerregenden Blick in existenzielle Abgründe zu riskieren, nur um dann leichtfüßig darüber hinweg zu tänzeln.
Und das ist auch sein Problem seit jeher: Er kann eine Menschenwelt, mit deren marionettenhaften Figuren sich so wunderbar ironisch spielen lässt, nicht ganz ernst nehmen. Statt sich unter Schmerzgefahr auf sie einzulassen, polierte er lieber seine blendenden Text-Oberflächen. Was eine Figur im Roman "F" feststellt, galt auch für ihn selbst: "Der Mensch will viel sein. Vielfältig. Möchte mehrere Leben. Aber nur oberflächlich, nicht im Tiefsten."
Tyll ist ein historischer Roman im modernen Sprachgewand
Jetzt ist Daniel Kehlmann der Befreiungsschlag aus dem Spiegelkabinett seiner Ich-Fiktionen endlich gelungen. Ohne seine Kunst der Oberflächen-Politur zu vernachlässigen, in die er bisher seine ganze Virtuosität investiert hat, wagt er sich nun auch in die Tiefe – dorthin, wo kein Tänzeln mehr hilft, um sich und seinen Figuren das vom Leibe zu halten, was quält: Schmerz, Wut, Leid, Reue, Todesangst und existenzielle Trauer.
Kehlmann knüpft nun wieder an sein bisher erfolgreichstes Format an, den historischen Roman. Den Erzählton in "Tyll" kennen wir bereits aus "Die Vermessung der Welt":
Es ist der entspannte Sound überlegener Heutigkeit. Auch wenn dieser Roman in der Barockzeit spielt, verkneift sich Kehlmann jegliche barockisierende Sprach-Kostümierung. Er versetzt die sagenhafte Gestalt des dämonischen Spaßmachers Tyll Ulenspiegel ins historische 17. Jahrhundert, in die chaotische Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In Tyll hat er einen Romanhelden am Wickel, der die vielen Gauklergestalten früherer Kehlmann-Romane zugleich bündelt, mit neuen Facetten anreichert und ins Paradigmatische erhebt.
Der Titelheld ist ein Tausendsassa
Sein Tyll ist Seiltänzer, Jongleur, Bauchredner, Possenreißer, Schauspieler und Schausteller, Musikant und Balladensänger, amoralischer Outcast, anarchischer Provokateur und weiser Hofnarr, Geistesbruder von Shakespeares Fools und schillernder Vorläufer der Entertainer, Joker und Comedians von heute. Vor dem Hintergrund kriegszerstörter deutscher Landschaften, die durchirrt werden von brandschatzender Soldateska, verrohten Heerhaufen und entwurzelten Flüchtlingen, erwächst der Titelheld Tyll zur exemplarischen Gestalt einer wüsten Epoche – zum klugen, bisweilen ruchlosen Überlebenskünstler.
Sein schneller Witz ist sein Schutz vor dem Untergang. Dieser Tyll Ulenspiegel ist ein Anti-Simplicissimus, der mehr mit Grimmelshausens gerissener Landstörzerin Courasche gemein hat als mit seinem einfältigen Schelm und Simplex. Am Ende ist Tyll unsterblich – die klassische unkaputtbare Außenseiterfigur, der Künstler.
Tyll ist der Sohn eines Müllers und philosophierenden Selbstdenkers, Weltgrüblers und Sternguckers vom Dorfe und muss als Junge mitansehen, wie ein fanatischer Jesuit und Ketzer-Schnüffler seinen Vater als Hexer aufhängen lässt, assistiert von seinem Mitbruder, dem berühmten Universalgelehrten und Universalschwindler Athanasius Kircher. Tyll macht sich aus dem Staub und lebt fortan zumeist auf der Straße, als herumziehender Vagant.
Er sucht dem Krieg auszuweichen und gerät doch manchmal zwischen die Fronten. Seine immer kunstvolleren Auftritte werden von seinem dumpfen Publikum zwar kaum angemessen gewürdigt, sprechen sich aber gleichwohl herum und werden legendär. Und sein Ruf rettet ihn. Am Ende wünscht sich ihn sogar der Kaiser in Wien zum Hofnarren.
Ein neuer Ton der Achtsamkeit für menschliches Elend
Wie Tyll sich in dieser aus den Fugen geratenen Kriegswelt durchschlägt, liest sich sehr heutig. Kehlmann zieht hier das Panorama einer krass mitleidlosen Epoche auf, in der ein Menschenleben nichts gilt und Menschen zuschanden gehen, einfach so. Doch gegen die Härte dieser Welt setzt Kehlmann einen neuen Ton der Achtsamkeit für menschliches Elend. Erstmals verschanzt er sich nicht mehr sofort hinter Ironie, sondern entwickelt Mitgefühl auch für Figuren, die nicht eitle Spiegelungen seiner selbst sind.
Es finden sich Nebenfiguren, deren Unglück sich der Autor zu Herzen nimmt. Wie Tylls hilflose Mutter untergeht, wie der Winterkönig, der törichte Pfalzgraf Friedrich, am Wegesrand verreckt, und welch hartes Exilschicksal die englische Prinzessin Elisabeth Stuart durchzustehen hat, die Witwe des Winterkönigs – all das erzählt Kehlmann mit Empathie und Feingefühl.
Seine Ironie reserviert er für andere berühmte Zeitgenossen, denen er, um die düstere Grundstimmung des Romans aufzulockern, köstliche Cameo-Auftritte gewährt: von König Gustav Adolf über den Theatermacher Shakespeare bis zum gelehrten Erzbetrüger Athanasius Kircher, den er auf die Jagd nach unauffindbaren Drachen schickt, nach dem Motto: Kein historischer Roman von Kehlmann ohne Gelehrtensatire.
Doch "Tyll" ist so viel mehr als das: Er ist Daniel Kehlmanns bester Roman bisher.