Mehr als die Hälfte der Deutschen gehört keiner der großen Kirchen an
Rund 640.000 Menschen haben 2021 die katholische und evangelische Kirche verlassen, alles deutet daraufhin, dass es 2022 noch mehr Austritte gab: In Deutschland gehört mittlerweile nicht mal mehr die Hälfte der Menschen einer der großen Kirchen an. Dennoch begehe ich eine Ordnungswidrigkeit, wenn ich am Karfreitag tanzen möchte. Wie passt das zusammen?
Themen wie die Genderdebatte und der Klimaschutz zeigen uns dieser Tage auf: Werte und Traditionen sind veränderlich, sie müssen immer wieder neu evaluiert werden. Ein „Das war schon immer so“ ist längst kein Argument mehr für einen Fortbestand überholter Relikte. Christen argumentieren in Bezug auf den Karfreitag gerne damit, dass ein Tag der Stille Niemandem schaden würde – doch so einfach ist das nicht.
Von oben verordnete Toleranz nützt Niemandem
Momente der Besinnung, Achtsamkeit, auch das bewusste Reflektieren von all dem Leid, das aktuell in der Welt geschieht – das hat nicht nur eine Daseinsberechtigung sondern auch seine Wichtigkeit. Das Problem dabei: Mir wird keine Wahl gelassen. Wann und wie ich mich erde, das ist meine Entscheidung, meine Privatsache. Und genau zu einer solchen sollte man Religion machen.
Skeptisch und vom hohen Ross herab blickt man aus Europa gerne auf arabische Länder, in denen der Glaube das öffentliche Leben mit Geboten und Verboten stark beeinflusst. Dabei ist der Karfreitag nichts anderes – auch hier soll man sich dem Glauben unterordnen. Doch diese „von oben“ verordnete Toleranz nützt uns allen nichts, sie erhitzt nur Jahr für Jahr die Gemüter.
Religion muss persönliche Freiheiten aushalten können
Rücksichtnahme und Respekt vor Andersgläubigen sind selbstverständlich, diese funktionieren allerdings auch ohne ein bevormundendes Tanzverbot. Wenn ich am Karfreitag also leicht angesäuselt über eine Tanzfläche stolpern möchte, dann sollte ich das in einer fortschrittlichen, multikulturellen Gesellschaft auch tun dürfen – so viel persönliche Freiheit muss eine Religion aushalten können, auch, wenn Kirche und Staat noch immer stark vermischt sind.
Wie passen nun ein stiller, christlicher Feiertag und eine pluralistische, zunehmend nicht einer großen Kirche angehörige Gesellschaft zusammen? Diese Frage drängt sich aus vielerlei Gründen auf und kann nur auf eine Art beantwortet werden: Mit der Abschaffung übergriffiger Gesetze wie dem Tanzverbot an Karfreitag. Samira Straub