Kritik am Lagerdenken
„Dass die Künstler aus dem globalen Süden uns provozieren, ist an sich nicht zu kritisieren“, sagt Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne-Frank Frankfurt. Rund um die Antisemitismusvorwürfe gegen die diesjährige Documenta hat sich der Publizist, Historiker und Pädagoge unermüdlich für den Dialog eingesetzt.
„Was am Ende bei mir bleibt, ist das Gefühl, es gibt zwei Lager, die sich unversöhnt gegenüberstehen“, so Mendel. Und das seien eben nicht die Lager, die wir so kennen, Rechte und Linke bzw. Extremisten. „Wir reden über ein Milieu der Menschen, die sich als liberal, weltoffen und kulturaffin begreifen.“ Man verspüre einfach ein hohes Maß an Emotionalisierung bis zu dem Punkt, dass man einfach nicht mehr miteinander sprechen wolle. „Das hat mich sehr erschüttert“, gibt Mendel zu.
Keine sachliche Debatte
Der Streit um die Documenta sei definitiv nicht sachlich verlaufen, kritisiert der Direktor der Anne-Frank Bildungsstätte. Stattdessen hätten sich die Beteiligten sehr früh auf die eine oder andere Position festgelegt.
Wenn jemand von Anfang an der Meinung war, hier werden übelste Antisemiten nach Deutschland gebracht, dann habe er oder sie, wie ein Puzzlestück, immer wieder Beweise dafür gefunden. Wenn jemand hingegen der Meinung war, hier würden unschuldige Künstler aus dem globalen Süden sofort auf die Anklagebank gesetzt, dann wurden auch dafür Belege gefunden. „Es geht eigentlich nicht um die Sache selbst, sondern es geht um Selbstbestätigung und um die eigene Identität.“
Antisemitismus noch immer weit verbreitet
Grundsätzlich hänge das Urteil über antisemitische Tendenzen in unserer Gesellschaft von der Antisemitismus-Definition ab, betont Meron Mendel. Beim Attentäter von Halle etwa gebe es einen eindeutigen Konsens darüber, dass diese Person antisemitisch
ist. Schwieriger würde es dann, wenn eine fundamentale Kritik an Israel mit Antisemitismus vermischt werde. Der Nahostkonflikt sei schnell anschlussfähig zu bestimmten antisemitischen Denkmustern. „Wenn man Antisemitismus so versteht, würde ich sagen, dass wir hier ein sehr viel größeres Problem haben als in einer bestimmten, sehr überschaubaren rechtsextremen Ecke.“
Vorurteilsbewusst statt vorurteilsfrei
In seiner Arbeit als Direktor der Anne-Frank Bildungsstätte beschäftige er sich nicht nur mit Antisemitismus, sondern mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, so Meron Mendel. Der Diskriminierungsgedanke und damit die Vorurteile gegen Andere seien verbreitet in allen Altersstufen, in allen Milieus, auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft.
„Es geht nicht darum, dass wir alle vorurteilsfrei sind. Mein Ziel ist, dass wir alle vorurteilsbewußt werden.“ Deshalb schulten er und seine Mitarbeiter neben Polizisten und BKA-Beamten auch Versicherungsangestellte und Fließbandarbeiter. „Wenn ich weiß, was meine blinden Flecken sind, dann werde ich diese Vorurteile nicht ganz loswerden, aber ich werde damit reflektiert umgehen und das ist schon sehr viel.“