Dreieinhalb Millionen Bücher werden ins Land geschmuggelt
Schmuggelware ist meist gefährlich. Man denke etwa nur an Drogen oder Waffen. Doch in Litauen wurde vor mehr als 100 Jahren eine ganz andere, sehr viel harmlosere Sache geschmuggelt: das gedruckte Wort.
Dreieinhalb Millionen Bücher und Zeitschriften sollen es gewesen sein, die zwischen 1866 und 1904 von Freiwilligen nach Litauen geschmuggelt wurden. „Knygnešiai“ nennen die Litauer*innen diese Schmuggler, übersetzen lässt sich das Wort mit „Bücherträger“. Unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit haben sie Druckerzeugnisse in litauischer Sprache und lateinischer Schrift über die Grenze aus Ostpreußen gebracht. Bis heute werden einige von ihnen als Helden verehrt. Auch ein Denkmal in Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes, erinnert an sie.
Widerstand gegen die Russifizierung des Landes
Vorausgegangen war ein Verbot litauischer Druckwerke aus dem Jahr 1866. Als Antwort auf den polnischen Januaraufstand von 1863, an dem auch Litauer beteiligt gewesen waren, untersagte der russische Zar Alexander II. drei Jahre später den Druck und die Verbreitung von litauischen Werken in lateinischer Schrift. Nur noch die kyrillische Schrift war erlaubt. Ziel war dabei die Russifizierung der Bevölkerung.
Doch es formierte sich Widerstand: Kurz nach dem Verbot organisierte der litauische Bischof Motiejus Valančius den Druck litauischer Bücher im Ausland und den Transport nach Großlitauen.
Ostpreußische Druckereien helfen bei der Verbreitung der Muttersprache
Vor allem in Ostpreußen, wo eine litauischsprachige Minderheit lebte, enstanden in der Folge Druckereien, die entsprechende Literatur herstellten. Um die Bücher über die Grenze zu bringen, benötigte man jedoch Träger.
Größtenteils waren es Bauern, aber auch Priester, Handwerker, Ärzte und Lehrer befanden sich unter ihnen. Die Knygnešiai handelten mehrheitlich aus ideellen Gründen und brachten sich durch den Transport in große Gefahr.
„König der Bücherschmuggler“: Jurgis Bielinis
Der berühmteste unter ihnen hieß Jurgis Bielinis, der schon zu Lebzeiten „König der Bücherschmuggler“ genannt wurde. Auf ihn setzte der Zar sogar ein Kopfgeld von 300 Rubel aus. Etwa die Hälfte aller eingeschmuggelten Druckwerke sollen von ihm in seiner 31-jährigen Tätigkeit verbreitet worden sein.
Bielinis wird bis heute als Nationalheld gefeiert: Der Tag der Bücherschmuggler findet an seinem Geburtstag, dem 16. März, statt.
Bei Verhaftung droht Arbeitslager oder der Tod
Bei Verhaftung drohte den Bücherschmugglern Gefängnis oder das Arbeitslager in Sibirien. Einige wurden beim Grenzübertritt getötet. Die Strafen fielen jedenfalls sehr viel härter aus als bei anderen Schmuggelwaren wie Tabak oder Alkohol.
Rund 30 Kilogramm gedrucktes Wort trug ein Schmuggler üblicherweise. Oftmals in Gruppen unterwegs, bewegten sie sich entweder auf Schleichwegen durch die Wälder oder nutzten die offiziellen Grenzübergänge – dann wurde die Schmuggelware zwischen anderen Gegenständen versteckt. Auch Grenzbeamte wurden bestochen.
Geistliche, Adlige und Bauern organisieren Transport und Verteilung
Vertrieben wurden die Bücher dann vornehmlich in ausgewählten Gaststätten und auf Bauernhöfen. Der Schwarzhandel mit den verbotenen Schriften florierte.
In erster Linie waren es Geistliche, die die Organisation des Bücherschmuggels übernahmen. Sie erhielten Unterstützung sowohl von adligen Familien als auch von Bauern, die die Druckerzeugnisse zwischenlagerten. Trotzdem fiel schätzungsweise rund ein Drittel der Bücher den Behörden in die Hände.
1904 wurde das Verbot schließlich aufgehoben: Nach Beginn des Russisch-Japanischen Kriegs sollte damit die Solidarität der litauischen Bevölkerung befördert werden. Der 7. Mai jedenfalls – jener Tag, an dem 1904 das Verbot aufgehoben wurde – wird seit 1990 in Litauen als Tag der Pressefreiheit gefeiert.