Die Erinnerung, die eine Gesellschaft mit sich trägt, ist nicht statisch, sondern ändert sich ständig. Deshalb muss sie immer wieder neu in Gesprächen verhandelt werden. Das erklärt im Gespräch mit SWR2 die Heidelberger Kulturwissenschaftlerin Professor Aleida Assmann anlässlich eines Vortrags über Josef Süß Oppenheimer, ein ebenso frühes wie berühmtes Opfer von Antisemitismus in Deutschland.
Migration erweitert die Erinnerungskultur
Daran, dass der Holocaust weiterhin im Zentrum unserer nationalen Erinnerung steht, hat Aleida Assmann keinen Zweifel. „Die Grundlagen sind gesetzt“, glaubt Assmann und widerspricht damit Zweiflern, die behaupten, die neue Welle von Antisemitismus in der Bundesrepublik sei ein Indiz, mit der erfolgreichen Aufarbeitung der NS – Vergangenheit bei uns sei es nicht weit her.
Die in Konstanz lebende Expertin für Erinnerungskultur plädiert stattdessen dafür, über eine Erweiterung der Erinnerung nachzudenken. Ihr Argument: „Wir haben inzwischen eine Migrationsgesellschaft, das Land hat eine Migrationsgeschichte bekommen.“ Politik und Gesellschaft müssten sich daher fragen: „Geht die das noch was an, haben die vielleicht noch andere Erinnerungen, die wir in unsere Erinnerungskultur hineinnehmen müssen?“
Mit Antisemitismus lassen sich Wahlen gewinnen
Besorgt zeigt sich Assmann angesichts des Skandals um Bayerns Wirtschaftsminister Aiwanger (Freie Wähler), der als Schüler ein antisemitisches Pamphlet verbreitet hatte, aber von seinem Koalitionspartner, der CSU, und Teilen der Öffentlichkeit in Bayern im Amt gehalten wurde. Mit Antisemitismus könne man also Wahlen gewinnen, schlussfolgert Assmann. Und: „Es gibt einen Bevölkerungskreis, der sich der Erinnerungskultur nicht anschließt und stolz ist, dagegen zu opponieren.“
Schweigen bedeutet Leid konservieren
Über die Vergangenheit zu schweigen, ist aus Assmanns Sicht aber die falsche Strategie. „Schweigen konserviert nur das Leid und die Emotionen“, sagt sie.
Vielmehr brauche es Gespräche zwischen den verschiedenen Gruppen und Alterskohorten. Diese hätten eine „fast therapeutische Wirkung“. Ein Konsens über Erinnerung könne erreicht werden, wenn es gelinge, „dass die Gruppen selber ihre Erfahrungen einbringen können und mit diesen Erinnerungen anerkannt werden.“
Prof. Aleida Assmann hat an der Universität Konstanz Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft gelehrt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kulturanthropologie und Gedächtnis.
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