Aktuelle Umfrage

Steigende Kosten, viel Bürokratie: Ist der Medizintechnik-Standort Deutschland in Gefahr?

Stand
Autor/in
Petra Thiele
SWR-Wirtschaftsredakteurin Petra Thiele

Nach dem Skandal um minderwertige Brustimplantate hat die EU die Regeln für Medizinprodukte verschärft. Laut einer aktuellen Umfrage leidet darunter jedoch die Innovationstätigkeit deutscher Hersteller.

Deutschland ist in Europa in der Medizintechnik führend und weltweit konkurrenzfähig. Und Baden-Württemberg trägt dazu einen wichtigen Teil bei: Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums ist Baden-Württemberg in Deutschland der führende Medizintechnikstandort, 25 Prozent des bundesweiten Umsatzes der Branche würden hierzulande erwirtschaftet. Aber wie lange können sich Deutschland und BW auf dem internationalen Markt noch behaupten?

Herstellerumfrage: Jede zweite Firma streicht mindestens ein Produkt

Deutsche Medizintechnikunternehmen und ihre Innovationstätigkeit leiden unter steigenden Kosten und immer mehr Bürokratie. Das zeigt eine aktuelle Umfrage, die dem SWR und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vorliegt. Durchgeführt wurde die Umfrage von der Tuttlinger Unternehmensplattform MedicalMountains gemeinsam mit dem Industrieverband SPECTARIS und der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Fast 400 Unternehmen sind zu den Auswirkungen der EU-Medizinprodukteverordnung MDR (englisch: Medical Device Regulation) befragt worden. Ergebnis: Drei Viertel der Unternehmen verzeichnen negative Auswirkungen auf ihre Innovationstätigkeit. In mehr als jedem zweiten Produktportfolio werden einzelne Produkte oder komplette Produktionen und Sortimente vom Markt genommen.

Unternehmen: Kaum Geld für Forschung und Entwicklung

Rund 20.000 medizinische Instrumente und Hilfsmittel sollten bis 2024 neu zertifiziert werden. Nach heftigem Protest wurden Fristen teilweise bis 2028 verlängert. Ein Problem bleibt weiterhin: Bei vergleichsweise kleinen Stückzahlen lohnt sich die Zertifizierung für Hersteller kaum, was sich etwa in der Kinderkardiologie bemerkbar macht. Die Unternehmen kritisieren, der bürokratische Aufwand durch die MDR sei zu langwierig und zu teuer: Für Forschung und Entwicklung bleibe kaum noch Geld übrig.

Der Gesamtumsatz der produzierenden Medizintechnikunternehmen (mit mehr als 20 Beschäftigten) legte in Deutschland 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 5,4 Prozent auf 38,4 Milliarden Euro zu. Davon Auslandsumsatz: rund 26 Milliarden Euro. Wichtige Exportmärkte für Medizintechnik aus Deutschland sind die USA, Frankreich und Italien.

"Zu bürokratisch, zu langwierig, zu teuer"

Hersteller von Medizinprodukten - wie das Tübinger Traditionsunternehmen Erbe - klagen, dass sich durch die MDR viel Personal um die Wiederzulassung von bestehenden Produkten kümmern muss, anstatt sich mit Neuzulassungen zu beschäftigen. Das Familienunternehmen Erbe entwickelt und produziert seit 170 Jahren Geräte für die Chirurgie. Die baden-württembergische Firma ist auf dem Gebiet einer der Weltmarktführer. Bei einigen Entwicklungsprojekten ist Erbe strategisch umgeschwenkt und geht zuerst auf den US-Markt. Patienten in den USA könnten so früher von neuer Technik profitieren, erklärte Helmut Scherer, technischer Geschäftsführer von Erbe im ARD-Magazin Plusminus am 8. Februar 2023:

Wir haben einen größeren Teil der Produkte tatsächlich vom Markt genommen. Einfach Produkte, die nicht in ausreichend großer Stückzahl abgesetzt werden können, weil es sich dann nicht rechnet, in die Unterlagen, die Dokumentation, zu investieren.

Weniger medizintechnische Innovationen in der EU

Laut der DIHK-Umfrage sind in rund 90 Prozent der Fälle die Zertifizierungskosten schuld daran, dass Medizinprodukte vom EU-Markt genommen werden. Die Zulassungsdauer habe sich für viele Betriebe drastisch verlängert. 37 Prozent der Unternehmen gaben an, die Verfahrensdauer sei dreimal so lange wie vor der MDR.

Diese Entwicklung führt mit dazu, dass die EU nicht mehr unbestrittene Nummer Eins bei Neuzulassungen ist. Mehr als jedes fünfte Unternehmen weicht mit medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte aus - meistens in die USA, so die DHIK.

Die Politik muss die Wettbewerbs- und Innovationskraft der mittelständisch geprägten Medizintechnik-Branche erhalten und stärker in den Blick nehmen - das wäre auch wichtig für die zuverlässige Gesundheitsversorgung in der EU.

Chirurgen-Verband fordert Hilfen für Kinder-Herzschrittmacher

Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DCK), Thomas Schmitz-Rixen, teilte auf SWR-Anfrage die Einschätzung der Anwender mit: Chirurgen hätten bei einer DCK-Umfrage bisher keine wesentlichen Einbußen in der Versorgung gesehen. Bedenklich bleibe allerdings die schwierige Situation bei Nischenprodukten:

"Hier wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Einbußen in der Versorgung kommen. Für diese noch näher zu identifizierenden Produkte, beispielsweise Herzschrittmacher für Kinder, müsste es staatliche Hilfen bei der Zulassung sowohl in finanzieller wie auch zeitlicher Hinsicht geben."

Insgesamt erwartet DCK-Generalsekretär Schmitz-Rixen eine Qualitätssteigerung durch die EU-Medizinproduktverordnung MDR. Er meint aber auch: "Den Aspekt der möglichen Behinderung von Forschung und Entwicklung müssen wir aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung im Auge behalten."

Medizinprodukteverordnung: "Gut gemeint - schlecht gemacht"

Die europäische Medizinprodukteverordnung ist für die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) ein Paradebeispiel für gut gemeinte, aber schlecht gemachte Regulierung: "Die EU muss sich stärker bewegen. Die Regulierung der Medizinprodukte verfehlt weiter klar ihre Ziele."

Das Bewertungsverfahren verursache bei den Unternehmen höhere Kosten und einen höheren Personalaufwand. Das könnten sich viele kleine und mittlere Unternehmen nicht leisten. Vor allem bei Nischenprodukten lohne sich der Aufwand nicht mehr: "Diese werden dann aufgegeben und gehen für unseren Markt verloren," so Hoffmeister-Kraut.

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EU-Kommission: Medizinische Geräte müssen sicher sein

Der Sprecher der EU-Kommission, Stefan de Keersmaecker, betont, dass Medizinprodukte ganz besondere Waren seien. Jeder von uns werde sie an einem bestimmten Punkt im Leben benötigen, etwa in Form von Kontaktlinsen, Spritzen, Herzschrittmachern oder künstlichen Hüften. Wir würden mit diesen medizinischen Geräten konfrontiert, sie müssen sicher sein und das öffentliche Gesundheitssystem unterstützen. Deshalb brauche man sehr strikte Qualitätskriterien. Die Kritik der Medizintechnik-Industrie nehme die EU sehr ernst, so de Keersmaecker.

We are aware of these concerns. We take them extremely seriously, which explains for instance why we have taken action by the extending the transition period, which is already showing positive results. (Uns sind diese Sorgen bewusst. Wir nehmen sie sehr ernst. Deshalb haben wir beispielsweise die Übergangsphase verlängert.)

Exportquote der deutschen Medizinproduktindustrie von 67 Prozent

Die Medizinprodukteindustrie in Deutschland beschäftigt - nach Angaben ihres Branchenverbandes (BVMed) - mehr als 250.000 Menschen. Rund neun Prozent des Umsatzes werden in Forschung und Entwicklung gesteckt, so der Verband. Die Exportquote liege bei 67 Prozent. Dabei sind 93 Prozent der MedTech-Betriebe kleine und mittelständische Unternehmen.

Nach Angaben von Statista, der Online-Plattform für Marktforschung, arbeiten bundesweit rund 160.000 Beschäftigte in der Branche Medizintechnik. Die führenden deutschen Unternehmen in der Medizintechnik sind (nach Umsatzzahlen von 2022) Siemens Healthineers, Fresenius Medical Care, Roche Diagnostics und B. Braun.

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