Bei vielen Artikeln im Netz steht über dem ersten Absatz die angenommene Lesedauer. Ich frage mich, was das soll. In Zeitungen und Zeitschriften, im Live-Radio und -Fernsehen kommt eine solche Zeitangabe nicht vor. Weshalb auch? Sollte die Moderatorin der SWR-Landesschau vor der Ausstrahlung eines Beitrags sagen: „In drei Minuten und 51 Sekunden sehen wir uns wieder?“ Natürlich nicht. Nur im Netz glauben Medienanbieter, auf eine kurze Verweildauer hinweisen – mit ihr werben? – zu müssen.
Mein Kollege macht mich auf den Zweck des Hinweises aufmerksam. Bei einem Artikel auf gedrucktem Papier sehen Leserinnen und Leser auf einen Blick, wie lange sie für die Lektüre brauchen. Dadurch können sie entscheiden, ihn jetzt, später oder gar nicht zu lesen. Im Netz müssen sie den Text erst herunterscrollen bis zu dessen ungefährem Ende, um seine Länge zu erfahren. Und wieder zurück auf den Anfang. Die Angabe der angenommenen Lesedauer erspart ihnen die Scrollerei.
Lesedauer-Hinweis schmälert das Lesevergnügen
Ich finde den Lesedauer-Hinweis trotzdem fehl am Platz. Wahrscheinlich denke ich da altmodisch: Für mich gehen Lesen und Zeiteffizienz nicht zusammen. Als Handwerker überlege ich mir selbstverständlich, ob ich kurz vor der Mittagspause mit einer neuen Arbeit beginne. Doch Lesen – auch die Lektüre von Sachartikeln – hat für mich nicht nur mit Bildung zu tun, sondern auch mit Muße. Ich nehme mir mal weniger, mal mehr Zeit zum Verstehen eines Textes. Soll ich etwa mit der Stoppuhr in der Hand lesen?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich spielt die Länge bzw. Kürze eines Artikels keine Rolle, sondern das Thema und der Inhalt. Eine Autorin, ein Autor bindet mich mit ihrer bzw. seiner Qualität des Textes. Ich habe dann nicht alle Zeit der Welt, nehme mir aber welche von Anfang bis Ende. So wie Sie für meine Kolumne, wofür ich Ihnen herzlich danken möchte.