Melanie* (Name von der Redaktion geändert) sitzt mit Jeans und weißem Oberteil mit bunten Blumen auf den Ärmeln auf einem Sessel. Ich treffe die Frau mit dem freundlichen Lächeln in den Räumen des Trierer Frauennotrufs. Vor drei Jahren kam die heute 46-Jährige zum ersten Mal dorthin, denn sie brauchte Hilfe, um ein Trauma zu verarbeiten.
"Ich habe damals keinen Termin beim Psychiater bekommen und der Frauennotruf war die schnellste Lösung", erzählt sie. Bis heute sucht sie dort die Beratungen auf. Um ihre Erlebnisse aufzuarbeiten und damit umzugehen, will sie mir ihre Geschichte erzählen.
Als Kind im Haus der Oma prostituiert
Ihre Schilderungen beginnen in der Kindheit: Melanie berichtet, wie sie und ihr Bruder bei ihren Eltern in der Region Trier aufgewachsen sind. Weil die Eltern wenig Zeit hatten, seien sie als Kinder häufig von der Oma betreut worden. "Das war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben", sagt sie.
Doch die Oma meinte es offenbar nicht gut mit den Kindern. Sie sei eine seltsame Frau gewesen und habe auch mit Vodoo zu tun gehabt, erzählt mir Melanie. Sie erinnert sich, dass damals im Zuhause der Oma häufig Männer zu Besuch waren. Wenn es um Details geht werden Melanies Erzählungen vage. Sie war damals erst drei Jahre alt, sagt sie.
Mit dreieinhalb Jahren das erste Mal vergewaltigt
An manches erinnert sie sich jedoch ganz klar. So schildert sie unter anderem, dass diese Männer von ihr und ihrem Bruder immer wieder pornografische Fotos und Videos gemacht hätten. Manchmal - so berichtet sie - seien auch andere Kinder dabei gewesen. Um sie gefügig zu machen, hätten die Täter den Kindern Alkohol gegeben, sie an Verdünnung oder Feuerzeuggas riechen lassen. Das alles unter der Aufsicht der Oma.
"Ich bin auch an Fremde weitergereicht worden, sie haben mich prostituiert", sagt sie mir in ruhigem Ton. Mit dreieinhalb Jahren sei sie das erste Mal vergewaltigt worden. "Ich habe all das mitgemacht, was eine erwachsene Prostituierte mitmacht", erzählt Melanie.
Der Missbrauch erschien ihr als Kind normal
Wenn man Melanie heute fragt, wie sie diese Situationen damals bewertet hat, überlegt sie einen Moment. "Ich bin in einer Blase aufgewachsen für mich war Sexualität dann wie Naseputzen." Für sie schien alles, was passierte damals normal.
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Sprechen durfte sie über das Erlebte aber nicht. Um sicherzugehen, wurde sie offenbar massiv unter Druck gesetzt. So schildert sie beispielsweise, wie die Täter ihr damals ein Kuscheltier weggenommen und kaputt gemacht haben. "Das war sozusagen symbolisch: Wenn du etwas sagst, was wir gemacht haben, dann tut es weh. Entweder dir oder anderen."
Das Motiv der Oma kennt sie bis heute nicht
Melanie ist sich heute sicher - ihre Oma war maßgeblich für den Missbrauch verantwortlich. Die Großmutter habe sie und auch ihren Bruder förmlich den Männern angeboten. Ob sie für all das, was die Männer mit ihrer Enkelin machten, Geld bekam, weiß Melanie nicht. Sie kann sich nur erinnern, dass es ihr ansonsten nie an irgendetwas fehlte. "Wenn sie mich in Ruhe gelassen haben, dann war ich happy, dann war ich frei".
Heute erinnert sie sich, dass sie sich all die Jahre verstellen musste, damit niemand etwas merkte. Auch mit ihrer Mutter konnte sie nicht über den Missbrauch sprechen, sagt sie. "Ich glaube sie hat etwas geahnt. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mich mal gefragt hätte, was mit mir los ist."
Sexueller Missbrauch endete mit elf Jahren
Kurz nach ihrem elften Geburtstag sei sie keinen Männern mehr präsentiert worden. Der Missbrauch habe dann ein Ende gehabt. "Ich denke ich bin dann einfach zu dick geworden und habe nicht mehr in die Rolle gepasst, die sie für mich vorgesehen hatten", mutmaßt Melanie.
Danach sei sie ihren Weg gegangen. Die Erinnerungen an ihre Kindheit schien sie zu verdrängen. Sie berichtet vom bestandenen Abitur und einem Job, den sie fand. Sie habe auch Beziehungen zu Männern gehabt, sei sogar Mutter geworden. Sie führte ein scheinbar normales Leben. Doch stückweise kamen im Laufe der Jahre die Erinnerungen zurück.
Trigger bringen Trauma zurück
So erzählt sie, wie manchmal durch den Duft eines Aftershaves oder durch einen Fernsehbericht wieder alles hochkommt: die Erlebnisse, die jahrzehntelang tief in ihrem Inneren verborgen blieben. Der Frauennotruf - so sagt sie - war ihre Traumatherapie. Die Beratungen dort hätten ihr ein Stück Lebensqualität zurückgegeben.
"Es gehört viel Arbeit dazu, sich damit auseinanderzusetzen, es tut weh, sich daran zu erinnern, es hat viele Tränen gekostet, aber wenn die Tränen dann kullern, ist man danach befreiter", sagt Melanie.
Das Schweigen hat ein Ende
Melanie zeigt mir einen Stapel Unterlagen. Darunter Anwaltsschreiben und Protokolle von Vernehmungen bei der Polizei. Irgendwann habe sie den sexuellen Missbrauch angezeigt. Erfolglos. Die Taten - so sagte man ihr - seien verjährt. Dennoch blickt sie nach vorne. Auch mit ihrer Mutter kann sie mittlerweile über das Thema sprechen. Sie habe sich bei ihr entschuldigt, dass sie damals nicht für sie da war.
Ein Leben nach dem Missbrauch
Melanie wirkt trotz alledem optimistisch. "Es kann nur besser werden" sagt sie lachend. Sie wünscht sich, dass Kinder besser beschützt werden, damit sie ohne Gewalt und glücklich aufwachsen können. Mit ihrer Geschichte möchte sie anderen Betroffenen auch Mut machen. "Ich denke ich führe ein Leben wie alle anderen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Ich bin dem Leben gegenüber dankbar, jeden Tag gibt es irgendetwas, worüber ich mich freuen kann, auch wenn es Kleinigkeiten sind."
Als ich sie frage, was sie heute als Erwachsene der kleinen Melanie von damals gerne sagen würde, antwortet sie langsam und leise aber bestimmt: "Ich habe dich lieb und ich beschütze dich. Um jeden Preis."