Ruth Petri ist seit sieben Jahren hauptamtlich beim Trierer Frauennotruf tätig. Seit mehr als 30 Jahren können Frauen sich dort beraten lassen. Egal ob sexueller Missbrauch oder sexuelle Belästigung in der Schule, im Beruf oder im Internet.
Die Mitarbeiterinnen unterstützen sowohl Frauen, die kürzlich sexualisierte Übergriffe erleben mussten, beraten häufig aber auch Frauen, die von einem Trauma längst vergessener Übergriffe eingeholt werden. Manche Frauen kommen einmal, andere kommen regelmäßig über Jahre.
SWR Aktuell: Frau Petri, das Thema "sexuelle Gewalt gegen Frauen" ist nach den Vorwürfen rund um die Band Rammstein aktueller denn je. Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Meldungen verfolgt?
Ruth Petri: Das sind gemischte Gefühle: Ich finde es auf der einen Seite gut, dass Betroffene sichtbar werden und dass sie an die Öffentlichkeit gehen mit dem Thema. Denn: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist ein Thema nicht erst seit den Schlagzeilen rund um die Band Rammstein. Seit Menschen zusammenleben, passieren Übergriffe auf Frauen und Mädchen in sexualisierter Form. Deshalb ist es gut, dass darüber gesprochen wird.
Es macht mich auch immer wütend, dass diese Machtstrukturen so funktionieren können. Dass über lange Zeit hinweg Menschen wie Objekte gecastet werden können. Dass dieses Machtgefälle immer wieder so funktioniert. Dass Systeme aufgebaut werden, wo Männer sich gegenseitig schützen, wo diese patriarchalen Strukturen so wirksam sind.
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SWR Aktuell: Hat es Sie überrascht, als Sie von den Vorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann gehört haben?
Petri: Ich gebe zu: Ich mag die Musik von Rammstein. Ich habe früher selbst ein Rammstein-Konzert besucht. Ich würde jetzt kein Konzert mehr besuchen.
Mich haben diese Meldungen nicht überrascht, weil überall dort, wo Menschen miteinander leben, Übergriffe passieren. Gerade dort, wo ein starkes Machtgefälle herrscht - wo sich ein sehr berühmter Rockstar aussuchen kann, wie er seine Freizeit gestaltet oder seine After-Show-Partys feiert - dort ist ein solches Machtgefälle da. Dort entwickeln sich solche Systeme. Ich finde es gut, dass die Gesellschaft das hinterfragt.
SWR Aktuell: Vor ein paar Tagen wurde eine Studie veröffentlicht, wonach für jeden dritten Mann in Deutschland Gewalt gegen Frauen in Ordnung ist. 34 Prozent gaben demnach zu, dass sie gelegentlich handgreiflich würden, um Frauen Respekt einzuflößen. Hat Sie das Ergebnis der Studie verwundert?
Petri: Nein. Das Thema Gewalt an Frauen und Mädchen hat auch etwas mit den Rollenstereotypen zu tun. Leider leben wir immer noch so in diesen Rollenklischees: Der Mann ist dominanter, er setzt sich durch und hat die Hosen an. Das sind immer noch Rollenbilder, die auch kleinen Jungs zum Teil noch vermittelt werden.
Wir wissen, dass diese Rollenstereotype massiv dazu beitragen, dass es Gewalt an Frauen und Mädchen gibt. Deshalb wundert mich das Ergebnis dieser Studie nicht.
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SWR Aktuell: Wie kann man sich generell Ihre Arbeit beim Frauennotruf vorstellen?
Petri: Viele verbinden den Frauennotruf mit einer akuten Anlaufstelle nach einer Vergewaltigung. Das sind wir auch. Aber es ist eben weitaus häufiger, dass Frauen kommen, die beispielsweise eine sexualisierte Gewalt in der Kindheit erlebt haben, die jahrelang damit klar kamen, dann aber in eine Lebenssituation kommen, wo das Erlebte wieder hochkommt. Und dann helfen wir dabei, das aufzuarbeiten.
Was ganz wichtig ist: Es gibt nicht: Das eine ist schlimm und das andere ist weniger schlimm. Wenn manchmal Frauen wegen einer sexualisierten Belästigung am Arbeitsplatz kommen und fragen: 'Das war jetzt ein Klaps auf den Po, das ist ja eigentlich gar nicht zu schlimm, nehme ich jetzt Ihre Zeit zu Unrecht in Anspruch?' Dann ist für uns ganz wichtig zu vermitteln, dass jede Form des Übergriffs von uns wahrgenommen, ernst genommen und ernsthaft betrachtet wird. Jedes Anliegen ist für uns wichtig.
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SWR Aktuell: Mit welchen Problemen kommen die Frauen zu Ihnen?
Petri: Es ist oft das Arbeiten an Schuld und Scham. Das ist ein riesen Thema bei sexualisierten Übergriffen. Das heißt, es taucht die Frage auf: Hatte ich einen Anteil daran? Habe ich Signale gesetzt? Bin ich schuld? Selbst wenn wir das vom Kopf her gut auflösen können und sagen, dass der Täter in der Verantwortung ist, dann ist dennoch unbewusst immer noch der Impuls da: "Oh Gott, vielleicht bin ich doch eklig oder falsch oder habe die falschen Signale gesetzt.'
Auch die Fragestellung, ob die Frauen die Täter anzeigen sollen, ist ein großes Thema. Ich erlebe oft, dass Frauen beispielsweise nach einer Vergewaltigung oft in einem Dilemma stecken. Sie haben das Gefühl, mit einer Anzeige dafür sorgen zu müssen, dass anderen Frauen nichts passiert. Gleichzeitig belastet sie das Erlebte aber so sehr, dass sie zur Ruhe kommen und sich nicht mehr mit dem Thema befassen möchten.
Bei den Beratungen wollen wir den Frauen helfen, die Sache zu verarbeiten. Deshalb geht es auch um den Umgang mit Triggern. Es gibt im Alltag immer wieder Auslöser, die an den Übergriff erinnern, das kann ein Geruch sein, eine Stimme, ein Bericht im Fernsehen. Wir zeigen ihnen, wie sie damit umgehen können und welche Übungen und Techniken sie einsetzen können, um sich wieder zu entspannen, einfach wieder zu funktionieren.
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SWR Aktuell: Sexualisierte Gewalt ist oft ein Tabu-Thema, oft trauen sich die Opfer nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wie kann man das ändern?
Petry: Dass es zu solchen Übergriffen kommt, hängt oft mit den Machtstrukturen zusammen, die wir in der Gesellschaft wiederfinden. Bei der sexualisierten Gewalt geht es nie um Erotik und Sex, sondern es geht um Macht. Es geht darum, einen anderen Menschen zu kontrollieren, klein zu machen, herabzuwürdigen.
Wir versuchen die Öffentlichkeit über das Thema aufzuklären, beispielsweise in dem wir Kampagnen an den Start bringen, dabei spielt auch das Thema Feminismus eine Rolle. Erst wenn Menschen sich auf Augenhöhe begegnen, nehmen auch geschlechtsspezifische Übergriffe ab und dann hat sexualisierte Gewalt keinen Raum.
SWR Aktuell: Wie viele Personen haben 2022 die Hilfe des Frauennotrufs in Anspruch genommen?
Petri: 2022 haben uns 166 Personen kontaktiert. Mehr als die Hälfte waren Betroffene. Uns rufen aber auch Angehörige an oder Menschen, die Informationen möchten, beispielsweise über Beratungs- und Schulungsangebote. Unsere Beratungszahlen spiegeln natürlich niemals die Zahl der Betroffenen wieder.
Die Dunkelziffer ist riesig. Das zeigen anonyme Befragungen. Demnach wurde jede siebte Frau ab 16 Jahren schon einmal Opfer einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung. Jede dritte Frau hat schon mal eine sexuelle Belästigung erlebt. Meiner Meinung nach ist wahrscheinlich fast jede Frau schon mal in eine Situation gekommen, die ihr unangenehm war. Doch nur die wenigsten gehen mit ihren Erlebnissen nach Außen und nehmen Beratungs- und Therapieangebote in Anspruch.
Es gibt Frauen, die nehmen ihre Geschichte mit ins Grab, ohne dass die beste Freundin oder die Schwester davon weiß. Es ist nach wie vor eine riesen Hürde, sich zu diesem Thema Hilfe zu holen. Vielleicht ist die Gesellschaft in den vergangenen Jahren ein bisschen offener geworden, aber wir sind noch lange nicht so weit, dass wir gut darüber sprechen können.
Sexuelle Übergriffe sichtbar machen
Kim aus Stuttgart erlebt oft sexuelle Belästigung. Deshalb hat sie mit Lise aus Pforzheim ein Projekt gestartet, mit dem sie sichtbar machen wollen, wie häufig sexualisierte Gewalt ist. Sie haben eine Homepage veröffentlicht, auf der Menschen ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen teilen können. Das Ziel: Aufmerksamkeit für das Thema und eine mögliche Gesetzesänderung.
SWR Aktuell: Wo liegen die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit?
Petri: In der Beratung ist die Herausforderung immer, sich selbst zu schützen und zu stärken. Stichwort Selbstfürsorge. Dazu gehört es auch, sich ein Stück weit rauszunehmen und zu sagen: Das ist die Geschichte der Frau und nicht die eigene.
Wir bekommen mit, dass es viele schlimme Übergriffe gibt, die Frauen teils schon in der Kindheit erlebt haben, das macht uns natürlich betroffen. Aber sobald ich irgendwo eine Schulung mache oder eine Kampagne plane, habe ich für mich das Gefühl, dazu beizutragen, dass sich die Gesellschaft verändert. Und das macht mich zufrieden und bringt mich wieder in so eine innere Balance.