SWR Aktuell: Herr Kesselheim, Sie arbeiten seit mehr als 20 Jahren als Polizeiseelsorger und lehren an der Hochschule der Polizei. Woran stellen Sie fest, dass die Gewalt gegen Polizeibeamte zugenommen hat?
Hubertus Kesselheim: Ich mache mit den Studierenden der Polizei regelmäßig Praktikums-Nachbesprechungen. Was haben Sie erlebt? Und da zeigt sich für mich ganz klar eine Tendenz in den vergangenen Jahren: Die jungen Polizisten sprechen immer stärker davon, dass sie nicht mehr respektiert werden, wenn sie mit einem Streifenwagen und in Uniform auftreten, sondern dass ihnen oft Respektlosigkeit gegenübertritt. Menschen, die nicht mehr ernst nehmen, dass da Polizisten kommen, die jetzt etwas durchsetzen müssen.
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Diese Situationen kommen häufiger vor als noch vor 20 Jahren, als ich mit der Polizeiseelsorge angefangen habe. Das ist eine Tendenz, die sich immer weiter einschleicht und die man spürt.
SWR Aktuell: In Trier-West sollen 40 Angreifer mit Flaschen, Holzstöcken und Schaufeln auf die Polizisten losgegangen sein. Muss sich die Polizei auch stärker gegen brutale körperliche Gewalt wehren?
Kesselheim: Es gab in den vergangenen Jahren Einsätze, die mich selbst schockiert haben, das kann ich nicht anders sagen. Was den Gewaltausbruch in Trier-West angeht: Ich habe dort noch im Ohr, dass ein älterer Kollege gesagt hat: "Ich bin jetzt seit mehreren Jahren hier, aber einen solchen Gewaltausbruch habe ich noch nicht erlebt." Dort hat sich etwas gruppendynamisch hochgeschaukelt - plötzlich und unvorhersehbar für die Beamten. Solche Situationen können ziemlich belastend sein.
Gewaltausbrüche erleben die Beamten aber eigentlich alltäglich. Natürlich nicht in dieser Dimension wie in Trier-West, aber an den Wochenenden in Trier werden Polizistinnen und Polizisten beleidigt und auch körperlich angegriffen. So etwas erleben Polizeibeamte regelmäßig - vor allem, wenn Alkohol im Spiel ist.
Polizeiseelsorger baut Selbstvertrauen wieder auf
SWR Aktuell: Wie gehen Polizistinnen und Polizisten mit solchen Situationen um?
Kesselheim: Wir müssen da unterscheiden zwischen ganz extremen Ereignissen und normalen Ereignissen. Bei den normalen Ereignissen, wo Alkohol im Spiel ist: Damit gehen die Beamten sehr gut um. Sie sind in der Regel Herr der Lage. Das war auch in Trier-West so: Die Beamten haben das in den Griff bekommen. Das ist ganz wichtig.
Für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte gibt es nichts Schlimmeres als ein völliges Ohnmachtsgefühl. Nicht handeln zu können. Sehr extrem habe ich das erlebt beim Überfall eines Geldtransporters in Saarlouis Mitte Januar. Dort waren die Täter schwer bewaffnet und die Beamtinnen und Beamten konnten nichts machen, außer ihr eigenes Leben retten. Das sind Situationen, die Polizeibeamten total unter die Haut gehen.
In Trier-West war es zunächst auch so, dass die Polizisten nicht darauf vorbereitet waren, dass ihnen plötzlich eine solche Gewalt gegenübertritt. Was aber wichtig war: Sie haben im Team und letztendlich auch durch zwei Warnschüsse die Situation in den Griff bekommen.
SWR Aktuell: Wie wichtig sind Gespräche, die Sie als Polizeiseelsorger mit Polizistinnen und Polizisten führen?
Kesselheim: Es gibt ein schönes Sprichwort: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Es ist wichtig, dass die Beamtinnen und Beamten ihre Erlebnisse mit uns teilen und dass wir sie gemeinsam einordnen können. Dass es zum Beispiel singuläre Ereignisse sind und nicht etwas, was sich am nächsten Tag wiederholen wird.
Polizistinnen und Polizisten brauchen Begleitung, die sie immer wieder auch stabilisiert. Wo sie sich auch mal 'auskotzen' können über das, was alles passiert und was permanent auf sie einprasselt. Was man klar sehen muss: Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte haben in ihrer dienstlichen Laufbahn fast immer nur mit den negativen Seiten des menschlichen Lebens zu tun. Darüber zu reden und sich auch selbst wieder Sicherheit geben zu können - das sind die Dinge, die wir machen.
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Polizisten leisten oft "Übermenschliches"
SWR Aktuell: Es ist sicher oft ein längerer Prozess, Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Haben Sie auch Fälle erlebt, wo Polizisten nach solchen Erfahrungen ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten?
Kesselheim: Ja, ich habe solche Fälle bereits erlebt, dass Beamtinnen und Beamte tatsächlich nach besonders belastenden Ereignissen den Dienst, den sie vorher gemacht haben, nicht mehr ausüben konnten. Das sind zwar Einzelfälle, aber das gibt es.
Ich erinnere mich noch gut an die Amokfahrt in Trier. Wir haben damals eine sehr intensive Betreuung der Beamtinnen und Beamten nach diesem Einsatz gemacht. Etwa vier Wochen lang haben wir mit vielen Beamten Gespräche geführt. Die Beamten haben aus meiner Sicht Übermenschliches geleistet. Das sind Bilder, die vergessen Sie nie mehr in ihrem Leben.
Die Gespräche haben mir gezeigt, dass es auch möglich ist, diese Erlebnisse zu bewältigen. Aber es gibt auch die Gefahr, dass man nach solchen Ereignissen den Beruf, so wie man ihn bisher ausgeübt hat, nicht mehr ausüben kann. Das sind Schicksale, die ganze Existenzen betreffen.
SWR Aktuell: Sehen Sie die Polizeiseelsorge in Rheinland-Pfalz gut aufgestellt oder müsste das Angebot ausgebaut werden?
Kesselheim: Generell sind wir in Rheinland-Pfalz gut aufgestellt. Wir haben in allen Präsidien Sozialberaterinnen und Sozialberater und auch Polizeiseelsorger. Sozialberater und Polizeiseelsorger sind mit etwas Besonderem ausgestattet: Mit einer Schweigepflicht und wir Polizeiseelsorger auch mit dem Zeugnisverweigerungsrecht. Beamte können mit uns über alles reden und wir dürfen darüber schweigen.
Ich halte dieses Angebot für sehr, sehr wichtig. Gerade die Polizeiseelsorge könnte noch ein Stück weit ausgebaut werden. Ich bin im Moment - das sage ich ganz offen - überfordert. Ich habe teilweise 50- bis 60-Stunden-Wochen. Das ist keine Seltenheit. Gerade wenn man auch nachts unterwegs ist und dann tagsüber unterrichtet - dann wird es manchmal ganz schön eng. Ja, das Angebot der Polizeiseelsorge könnte ausgebaut werden, das ist keine Frage.