"Das Land zieht sich immer mehr raus"

Jugendämter am Limit: So läuft es aktuell in Germersheim und Neustadt

Stand
Autor/in
Birgit Baltes
Foto für Autorenseite

Die Lage in der Jugendhilfe ist in der Pfalz seit Jahren angespannt und spitzt sich immer weiter zu. Die Jugendamtsleiter in Germersheim und Neustadt erklären, warum das so ist.

Denise Hartmann-Mohr ist seit vielen Jahren Chefin im Kreisjugendamt in Germersheim. Sie bemüht sich sehr, ihr mehr als 20-köpfiges Team nicht über Gebühr zu belasten. Doch steigende Fallzahlen, immer neue Aufgaben und der Fachkräftemangel führen das Jugendamt zusehends an die Belastungsgrenze.

Jugendamtsleiterin im Kreis Germersheim Denise Hartmann-Mohr
Denise Hartmann-Mohr, Leiterin des Jugendamts im Landkreis Germersheim.

Jugendamtsleiterin: Immer mehr Kinder und Jugendliche brauchen Hilfe

Im Landkreis Germersheim leben aktuell 110 Kinder und Jugendliche in rund 90 Pflegefamilien. 135 Kinder und Jugendliche sind in stationären Einrichtungen wie Wohngruppen untergebracht. Allein in diesem Jahr musste das Jugendamt fast 40 Kinder und Jugendliche aus ihrer Familie nehmen, beispielsweise wegen Gewalt, Sucht oder Vernachlässigung. Die Fallzahlen steigen, sagt Denise Hartmann-Mohr. Und auch die Probleme werden komplexer: Jedes einzelne Kind brauche deshalb oft mehrere Hilfen gleichzeitig. Auch das führe zu einer Mehrbelastung der Jugendamtsmitarbeiter, so die Jugendamtsleiterin.

Sie bemühe sich, dass sich keiner im Team um mehr als 40 Fälle kümmern müsse. Aber täglich gingen Meldungen von sogenannten Kindeswohlgefährdungen ein. "Und die kommen noch on Top dazu." Außerdem kümmert sich das Jugendamt aktuell um 70 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA). Dabei muss es immer erstmal Alter, Herkunft und Geschichte des Geflüchteten abklären, bevor es eine Einrichtung für ihn sucht. Dieses sogenannte Clearing-Verfahren hatte bis vor einem Jahr noch das Schwerpunktjugendamt in Trier übernommen. "Aber das war völlig überfordert", sagt Hartmann-Mohr. Deshalb habe es die Leistung ganz kurzfristig zum September 2023 an den Kreis zurückgegeben.

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Jugendamt Germersheim: "Wir kommen an die Grenzen der Belastbarkeit"

Das alles führe zu einer "wahnsinnig hohen und dauerhaften Belastung" ihrer Mitarbeiter. Dadurch gebe es mehr Krankheitsausfälle und die Fachkräfte würden auch schneller wieder kündigen, als das früher der Fall gewesen sei. Da seien die Mitarbeiter im Schnitt acht Jahre im Amt geblieben, heute seien es etwa drei. Hinzu komme der Fachkräftemangel, sagt die Jugendamtsleiterin "Wir sind eigentlich nie voll besetzt". Die Jugendämter auf der anderen Rheinseite in Baden-Württemberg würden auch viele Fachkräfte abwerben, weil sie besser bezahlen oder attraktivere Arbeitsbedingungen bieten.

Wir sind eigentlich nie voll besetzt

Einrichtungen freier Träger leiden unter Fachkräftemangel

Ähnliches berichtet Alf Bettinger, Leiter des Bereichs Soziales, Jugend und Familien bei der Stadtverwaltung Neustadt. Der Fachkräftemangel in den Einrichtungen mache sich immer mehr bemerkbar. Da könnten häufiger Plätze mal nicht besetzt oder es müssten ganze Wohngruppen geschlossen werden, weil es den freien Trägern an Fachpersonal fehle. Es komme auch schon vor, dass Mitarbeiter sich die Finger wund telefonieren müssen, um ein Kind unterzubringen.

Jugendamt Neustadt: "Alle Stellen besetzt"

Anders als in Germersheim sind im Neustadter Jugendamt aktuell alle Stellen besetzt. Das liege wohl auch daran, dass "wir hier bei der Personalgewinnung andere Wege beschreiten", sagt Bereichsleiter Bettinger. So gewinne man durch das duale Studium am Standort neue Mitarbeiter. Und auch den Praktikanten, die nach ihrem Fachstudium nach Neustadt kommen, biete man in der Regel eine Stelle an. Alf Bettinger räumt aber ein, dass die Jugendämter am Rhein es schwerer haben, Fachkräfte zu finden und zu halten, weil viele nach Baden oder Hessen abwandern.

Die Problematik mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen macht uns schon zu schaffen. Da müssen Sie sofort handeln.

Auch das Jugendamt Neustadt muss sich nun direkt um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kümmern. Aktuell wohnen 178 Kinder und Jugendliche in Einrichtungen und etwa 70 Kinder in Pflegefamilien. Im Allgemeinen gebe ist nicht mehr Fälle, "nur die Belastung ist jetzt größer, weil die Stadt das Clearing-Verfahren mit den UMAs selbst machen muss." Und natürlich sei die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer in den vergangenen Jahren gestiegen: "Das macht uns schon zu schaffen. Das ist klar. Da müssen Sie sofort handeln. Sie können einen Minderjährigen ja nicht in eine Sammelunterkunft tun", sagt Bettinger.

Neustadt und Germersheim: Pflegefamilien immer willkommen

"Pflegfamilien sind immer willkommen", sagt der Jugendamtschef. Sie würden in Neustadt durch ein eigenes Team betreut mit einer Vollzeit- und zwei Teilzeitkräften. Dass es schwierig ist, noch an Pflegefamilien zu kommen, berichtet auch Jugendamtsleiterin Hartmann-Mohr, auch wenn das im Kreis Germersheim noch recht gut funktioniere. Hier kümmert sich ein Team mit 3,5 Vollzeitstellen, der sogenannte Pflegekinderdienst, um 90 Pflegefamilien. Schwierig sei, dass inzwischen "fast alle Familien Doppelverdiener sind und die Anforderungen an Pflegeeltern immer höher werden."  

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Die Jugendamtsleiter berichten auch, dass die Kosten in der Jugendhilfe enorm gestiegen sind, vor allem wegen der gestiegenen Löhne. Und dass die klammen Kommunen zunehmend auf den Millionen an Mehrkosten sitzen bleiben. So waren es dem Bereichsleiter in Neustadt zufolge vor Jahren noch etwa ein Viertel der Kosten, die das Land der Stadt in der Jugendhilfe erstattet hatte. Inzwischen seien es nur noch knapp acht Prozent. Denise Hartmann-Mohr spricht von etwa neun Prozent, die das Land dem Kreis zuschießt. Eine Ausnahme sind die UMA. Hier zahlen Land und Bund 100 Prozent für die Unterbringung.

Das wünschen sich Neustadt und Germersheim vom Land

Die Jugendamtschefin in Germersheim wünscht sich vor allem eines: "Dass wir die stabilen Strukturen in der Jugendhilfe im Landkreis erhalten und weiter ausbauen können. Und dass die Kommunen nicht vom Land allein gelassen werden." Denn es sei wichtig, neue Strukturen aufzubauen, wenn in der Jugendhilfe im Sinne der Inklusion ab 2028 behinderte und nicht behinderte Kinder zusammen betreut werden sollen.

Und der Neustadter Bereichsleiter Alf Bettinger sagt: "Wenn sich das Land an den Kosten, die im Jugendhilfebereich anfallen, mit mehr Geld beteiligen würde. Das wäre schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung."

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