#Notfall Rettung

Woche der Wiederbelebung: Wenn der Notruf zu lange dauert

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Autor/in
Gina La Mela
Gina La Mela
SWR Data Lab
SWR Data Lab

Ob eine Wiederbelebung gelingt, entscheidet sich häufig schon in der Leitstelle. SWR-Recherchen zeigen, dass nicht alle Notrufzentralen mit den modernsten Mitteln arbeiten. Das kostet Leben.

Wer die 112 wählt, landet in der Leitstelle. Am anderen Ende der Leitung sitzt ein Mitarbeiter, auch Disponent genannt. Er nimmt Anrufe entgegen, wertet Informationen aus und ist dafür verantwortlich, wie ein Rettungseinsatz beginnt.

Zu oft arbeiten Leitstellen in Deutschland noch nicht mit den modernsten Abläufen, um dringliche Notfälle konsequent zu erkennen. Das zeigt eine umfangreiche Datenabfrage des SWR Data Lab. Wie die Lage bei Ihnen in der Region ist, erfahren Sie hier.

In mindestens jedem fünften Fall fehlt eine strukturierte oder standardisierte Notrufabfrage, eine Art "Entscheidungsbaum", die dem Disponenten hilft einen Herz-Kreislauf-Stillstand schnell zu erkennen. Auch die Qualität der Arbeit wird vielerorts nicht gemessen. Nur etwas mehr als die Hälfte der Rettungsdienstbereiche führt ein dafür notwendiges Qualitätsmanagementsystem in der Leitstelle.

In der Realität bedeutet das: Die Qualität der Hilfe kann stark voneinander abweichen, je nachdem bei welcher Notrufzentrale und manchmal sogar bei welchem Mitarbeiter der Anrufer landet. Bei zeitsensiblen Notfällen, wie dem Herz-Kreislauf-Stillstand, können die Entscheidungen, die in der Leitstelle getroffen werden, über Leben und Tod entscheiden.  

Vorgegebene Fragen führen zu verlässlicheren Ergebnissen

Ein Leitstellenmitarbeiter nimmt einen Notruf an und beginnt sofort Fragen zu stellen: Wo ist der Notfall? Was ist passiert? Wer ist betroffen? Bekommt der Patient ausreichend Luft? Dieser Vorgang nennt sich Notrufabfrage und kann auf unterschiedliche Art und Weise durchgeführt werden.  

Es gibt zwei grundlegende Arten, wie mit einem Notruf in der Leitstelle umgegangen wird: die freie Notrufabfrage und die strukturierte und standardisierte Notrufabfrage (SSNA). Bei der freien Abfrage entscheidet der Leitstellenmitarbeiter, basierend auf seiner eigenen Einschätzung und Erfahrung, in welcher Reihenfolge und in welchem Wortlaut er die Fragen stellt. 

Anders läuft das bei der SSNA: Anhand einer Software klickt sich der Disponent durch einen vorgegebenen Ablauf von Fragen. Je lebensbedrohlicher die Verletzung oder Erkrankung, desto weniger Fragen müssen beantwortet werden und desto schneller kann Hilfe losgeschickt werden. Besonders Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand sind darauf angewiesen, dass der Leitstellenmitarbeiter die Gefahr sofort erkennt, um die nötigen Schritte einzuleiten.  

Trotz Experten-Empfehlungen fehlen allgemein gültige Standards

Bereits seit 2010 empfiehlt der Europäische Rat für Reanimation (ERC) in seinen Richtlinien, dass Leitstellendisponenten darin geschult werden sollten "Anrufer nach strengen Protokollen zu befragen, um Informationen zu erhalten." In den 2021 zuletzt aktualisierten Richtlinien vom ERC heißt es: "Die Leitstellen sollten standardisierte Kriterien und Algorithmen anwenden, um festzustellen, ob sich ein Patient zum Zeitpunkt des Notrufs in einem Herzstillstand befindet."

Trotzdem gibt es in Deutschland bisher keine einheitliche Regelung dazu, welche Art der Notrufabfrage genutzt werden soll. Einzelne Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg schreiben die standardisierte Notrufabfrage vor, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ist die strukturierte Abfrage gesetzlich vorgegeben. Die folgende Karte zeigt, in welchen Teilen von Deutschland eine SSNA genutzt wird. 

In der Leitstelle, in der Rafael Trautmann arbeitet, wird eine standardisierte Notrufabfrage-Software eingesetzt. "Das ist der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik. Meiner Meinung nach sollten alle Leitstellen standardisiert abfragen", sagt er. Trautmann ist Sprecher der AG Leitstelle bei der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften (DGRe) und arbeitet selbst in einer Integrierten Leitstelle in Nordrhein-Westfalen.

Aus den Antworten der umfangreichen SWR-Datenabfrage ging hervor, dass manche Verantwortliche in den Leitstellen den neuen Systemen skeptisch gegenüberstehen und eine freie Abfrage bevorzugen. Tatsächlich gibt es laut dem Fachverband Leitstellen e.V. keinen eindeutigen Beleg dafür, dass die standardisierte oder strukturierte Notrufabfrage in jedem einzelnen Fall besser ist als die freie Abfrage. Unstrittig sei jedoch, dass mit einer SSNA ein einheitliches Niveau der Abfragequalität erreicht werde.

Ein Allheilmittel seien die Notrufabfrage-Softwares nicht, das weiß auch Rafael Trautmann. Was man laut ihm aber mit Sicherheit sagen könne: "Die Systeme machen, was sie sollen. Sie sind sensitiv und erkennen bedrohliche Notfälle schnell. Das kann man nachweisen." Und das ist vor allem für Patienten wichtig, die einen Herzstillstand erleiden und dringend reanimiert werden müssen. Für sie zählt jede Sekunde.

Hilfe am Telefon durch schnelles Erkennen

Hat ein Leitstellenmitarbeiter erst einmal erkannt, dass eine Reanimation notwendig ist, muss er den Anrufer bei der Herzdruckmassage anleiten. Die Telefonreanimation soll so lange erfolgen, bis professionelle Ersthelfer oder der Rettungsdienst eintreffen.

“Die sofortige Einleitung einer Herzdruckmassage kann die Überlebenschancen bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand verdoppeln oder verdreifachen.” 

Bereits die ERC-Richtlinien von 2010 und 2015 weisen darauf hin, wie wichtig Telefonreanimation ist. Bei sofortigem Beginn der Herzdruckmassage können sich die Überlebenschancen verdoppeln oder sogar verdreifachen.

Eine strukturierte oder standardisierte Notrufabfrage hilft den Disponenten dabei, die Fälle zu erkennen, in denen eine Telefonreanimation benötigt wird. “Mit der Telefonreanimation hat die Leitstelle eine neue Rolle bekommen. Nicht nur den Anruf annehmen und den Rettungsdienst rausschicken, sondern aktiv ins Geschehen einzugreifen”, sagt Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.

Aus der SWR-Datenabfrage ist ersichtlich, dass nicht alle Rettungsdienstbereiche die Telefonreanimation ausreichend dokumentieren.

Stetige Weiterentwicklung durch Qualitätsmanagement 

Die Arbeit in der Leitstelle sollte ständig kontrolliert und evaluiert werden. Nur so kann festgestellt werden, wo strukturelle Fehler passieren. So ein Qualitätsmanagement zu implementieren, bedarf allerdings Zeit und Geld. Das weiß auch Rafael Trautmann, der in seiner Leitstelle auch für das Qualitätsmanagement zuständig ist: "Man muss sich überlegen, welche Kennzahlen möchte ich denn überhaupt messen? Wo stehen wir jetzt und wo möchten wir hin? Durch welche Maßnahmen können wir dahin kommen?"

Nicht jede Notrufzentrale kann das leisten. Vor allem kleine Leitstellen mit wenig Personal können schwer Kapazitäten für das Qualitätsmanagement freimachen.

Unterschiedliche Standards auch in der Ausbildung 

Länge, Inhalte und Dauer einer Ausbildung zum Leitstellendisponenten unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. "Ein Leitstellenmitarbeiter, der in Baden-Württemberg tätig ist, kann in Nordrhein-Westfalen überhaupt nicht tätig werden", sagt Rafael Trautmann. "Hier gibt es ganz andere Regularien, hier wird eine ganz andere Ausbildung gebraucht."  

Wie kann es weitergehen?

Die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung legte im September 2023 eine Empfehlung zur Reform der Notfall- und Akutversorgung vor. Darin sind auch Vorschläge für Veränderungen an den Leitstellen enthalten.

Wir haben kein Wissensproblem, sondern ein Umsetzungsproblem im Deutschland.

So sollen beispielsweise Leitstellen miteinander verknüpft werden, so dass eine auf etwa eine Million Einwohner kommt. Auch eine Studie bestätigt, dass durch das Schaffen größerer Notrufzentralen, etwa durch Fusionierung, leistungsfähigere Einheiten entstehen können.  

Fehlende Kooperation unter den Leitstellen

Benachbarte Leitstellen sollten so kooperieren, dass sie über Bundeslandgrenzen hinweg auf die Rettungsmittel der jeweils anderen zugreifen können. Das wäre auch ein großer Wunsch von Rafael Trautmann: "Einfach Daten austauschen ohne großen Aufwand. Per Knopfdruck Einsatzmittel von der Nachbarleitstelle anfordern und entsenden."

Ob und wann bundesweit einheitliche Standards für die Leitstellen umgesetzt werden, bleibt unklar. Die Bundesländer bemühen sich derweil weiterhin eigene Lösungen zu finden. In Baden-Württemberg soll das Rettungsdienstgesetz erneuert werden, geplant ist auch eine Reform der Leitstellen. Die Recherchen des SWR Data Lab belegen jedoch: Von verlässlichen Standards für Leitstellen ist Deutschland noch weit entfernt.