Es ist nach 22 Uhr, Michael Müller will gerade schlafen gehen. Ein Alarmton schrillt aus seinem Smartphone: Region der Lebensretter - eine App, die in Notfällen freiwillige Ersthelfer alarmiert. Einsatzstichwort Reanimation. Müller sieht: ein Herz-Kreislauf-Stillstand in seiner Nachbarschaft. Er nimmt den Alarm an, signalisiert damit: Ich werde da sein. Er zieht sich an, sucht seinen Schlüssel, greift nach dem Defibrillator und eilt zum Auto.
Die App navigiert ihn zum Einsatzort. Zwei weitere alarmierte Helfer haben dort schon mit der Herzdruckmassage und Maskenbeatmung begonnen. Müller schaltet seinen Defibrillator ein, bringt die Elektroden an der Brust des Patienten an und gibt den ersten Schock ab. Das alles passiert, noch bevor der Rettungsdienst eintrifft. Michael Müller ist nicht nur Ersthelfer, sondern auch Chefarzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin in Freiburg.
Ersthelfer-Apps sind zu wenig verbreitet
So wie in diesem Beispiel sollte es idealerweise laufen, sobald jemand einen Herz-Kreislauf-Stillstand hat. Doch an vielen Orten in Deutschland ist das nicht möglich. Denn eine Recherche des SWR Data Lab zeigt: Nicht einmal die Hälfte aller Rettungsdienstbereiche hat eine First-Responder-App wie die, die Michael Müller und die anderen Ersthelfenden auf den Notfall aufmerksam gemacht hat.
First-Responder-Apps retten Leben
Schon nach drei bis fünf Minuten ohne Herzschlag entstehen Schäden im Gehirn, die nie mehr rückgängig gemacht werden können. Je früher nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand eine Herzdruckmassage durchgeführt wird und je früher bei Kammerflimmern defibrilliert wird, desto höher ist die Chance auf Überleben. “Wenn ein Mensch erst durch den Rettungsdienst versorgt wird, dann ist es meistens schon zu spät”, sagt Professor Michael Müller. Er hat die Ersthelfer-App “Region der Lebensretter” mitgegründet.
Studien zeigen: Wenn Ersthelfer wie er im Einsatz sind, kann die Zeit bis zur ersten Wiederbelebung erheblich verkürzt werden. Dadurch überleben mehr Menschen einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Besonders gut funktioniert die Alarmierung von Ersthelfenden per Smartphone-App. Laut Angaben der App-Betreiber sind First Responder in einigen Regionen im Durchschnitt in unter vier Minuten am Einsatzort.
Andere Ersthelfer-Systeme weiter verbreitet
Viele Regionen haben zwar keine Smartphone-App, aber ein anderes Ersthelfer-Alarmierungssystem, wie beispielsweise einen Bereitschaftsdienst der freiwilligen Feuerwehr oder Helfer-vor-Ort-Gruppen, die vom Deutschen Roten Kreuz oder anderen Hilfsorganisationen organisiert sind. Die Ersthelfer werden dabei über Funksender oder SMS alarmiert.
Über zwei Drittel aller Regionen nutzen flächendeckend ein First-Responder-System. Bei solchen Systemen werden die Helfer nicht standortbasiert benachrichtigt. Eine App dagegen kann gezielt nachverfolgen, wo sich ein First Responder gerade aufhält und nur die Personen losschicken, die früher als der Rettungsdienst am Notfallort sein können.
App alarmiert Helfer in der Nähe
Sobald dann jemand bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand die 112 wählt, aktiviert die Leitstelle gleichzeitig mit dem Rettungsdienst auch die App.
Niedrigere Überlebenschancen in Regionen ohne App
Obwohl die positive Wirkung dieser Vorgehensweise bewiesen und bekannt ist, ist die Abdeckung mit Apps in Deutschland lückenhaft. Während die Bundesländer Schleswig-Holstein, Saarland und Brandenburg flächendeckend mit First-Responder-Apps ausgestattet sind, gibt es in Thüringen keinen einzigen Rettungsdienstbereich, der eine App zur Alarmierung von Ersthelfenden nutzt.
Professor Jan-Thorsten Gräsner ist Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und Mitglied im Organisationskomitee des Reanimationsregisters. Seiner Meinung nach vertun die Regionen ohne App eine große Chance zur Rettung von Menschenleben. “First Responder Apps sind eine hervorragende Ergänzung für die Versorgung unserer Patienten im Herz-Kreislauf-Stillstand", sagt er. “Wir sehen erschreckend viele Bereiche, wo noch keine Ersthelfer-Apps eingeführt worden sind.”
Verbesserungsbedarf selbst in grünen Bereichen
Doch die Einführung einer App allein reicht nicht aus, um die Situation in Deutschland zu verbessern. Ob eine App gut funktioniert, hängt unter anderem von der Anzahl der registrierten Mitglieder ab. Je mehr Helfer, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in der Nähe ist, wenn ein Notfall passiert. Laut Michael Müller braucht es dafür mindestens einen Helfer pro Quadratkilometer. Diese Marke wird in Deutschland nur in wenigen Regionen erreicht.
Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass es in Deutschland keine einheitliche Ersthelfer-App gibt. Über die letzten Jahre haben verschiedene Anbieter unterschiedliche Systeme entwickelt, die sich regional verbreitet haben. In Schleswig-Holstein und in Brandenburg beispielsweise haben sich die Rettungsdienstbereiche auf ein System geeinigt, während der überwiegende Teil der Bundesrepublik, wie so oft in der Notfallversorgung, einem Flickenteppich gleicht.
Fehlende Kommunikation der Apps untereinander problematisch
Das Problem: Die Apps können nicht untereinander Daten austauschen oder einen Alarm weitergeben. Wer bei "Region der Lebensretter" in Heidenheim angemeldet ist, kann nicht von "Corhelper" in Göppingen alarmiert werden. Teilweise können sich nicht einmal Gemeinden innerhalb eines Rettungsdienstbereiches auf eine gemeinsame App einigen. In der Region Südpfalz gibt es deshalb zwei verschiedene Apps. In den Regionen Nürnberg und Fürstenfeldbruck wurde nur in einem Teil der zugehörigen Gemeinden eine App eingeführt.
Selbst wenn zwei Nachbarregionen dieselbe App benutzen, können Helfer teilweise nicht bereichsübergreifend alarmiert werden. Der Zuständigkeitsbereich der Leitstelle ist dann die harte Grenze. Während das bei den Apps “Region der Lebensretter” und “Saving Life” automatisch funktioniert, muss man sich bei “Mobile Retter” erst für andere Regionen freischalten lassen. Bei “Katretter” ist diese grenzübergreifende Alarmierung nur möglich, wenn Rettungsdienstbereiche das untereinander vereinbaren.
Ersthelfer ist nicht gleich Ersthelfer
Der Grund dafür: Es gelten je nach App und Region unterschiedliche Zugangsbedingungen. “Saving Life”, “Region der Lebensretter” und “Mobile Retter” geben appübergreifend vor, welche Ausbildung notwendig ist, um Ersthelfer zu werden. “Katretter” und “Corhelper” überlassen diese Entscheidung der jeweiligen Region.
Ein First Responder aus Berlin, der sich bei Katretter mit einem Erste-Hilfe-Kurs registriert hat, kann in der Lausitz nicht alarmiert werden. Dort können nur Personen mitmachen, die in einer Hilfsorganisation, bei der Feuerwehr oder der Polizei aktiv sind oder einen medizinischen oder rettungsdienstlichen Beruf haben oder hatten.
Hürde für Ersthelfer: Reicht ein Erste-Hilfe-Kurs?
Die Regionen, die nur einen Erste-Hilfe-Kurs fordern, hoffen auf mehr freiwillige Ersthelfer: Denn je niedriger die Hürden, desto mehr Menschen können potenziell helfen. In vielen anderen Regionen fürchten die Verantwortlichen, Reanimations-Einsätze könnten ungeschulte und ungeübte Helfer psychisch zu stark belasten. Laut Gräsner, dem Experten für Rettungs- und Notfallmedizin, gehe es schließlich darum, mit einer App Ersthelfer zu aktivieren, die mental und technisch besser auf eine Reanimation eingestellt sind als Laien.
So sieht es auch Michael Müller, Mitgründer von Region der Lebensretter: “Wir wollen die Menschen, die an der Einsatzstelle hilfreich sind, statt den Rettungsdienst zu behindern, und die nicht nachbetreut werden müssen, weil sie in so einer kritischen Situation mit großem Stress konfrontiert werden”. Er sagt, es gebe genug qualifizierte Personen. Die müsse man nur alle in die App holen. Denn klar sei: Je höher die Dichte an First Respondern, desto schneller könne im Notfall jemand helfen.
Forderung: Flächendeckend Ersthelfer-Systeme einführen
Bisher entscheiden Regionen auf freiwilliger Basis, eine Ersthelfer-App oder ein System einzuführen. Finanzielle Unterstützung bekommen sie nicht. Laut Müller kostet die Einführung einer App in der Regel bis zu 50.000 Euro, plus den jährlichen Erhalt. Der Europäische Rat für Wiederbelebung fordert in seinen Reanimationsleitlinien 2021 trotzdem jedes europäische Land dazu auf, ein digitales First-Responder-System einzuführen. Auch die deutsche Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung empfiehlt in ihrer Stellungnahme zur Reform der Notfall- und Akutversorgung, Ehrenamt und First-Responder-Strukturen in der Bevölkerung zu fördern, insbesondere in strukturschwachen Gebieten.