Eine Überlebende erzählt

Zehn Jahre nach Genozid an Jesiden im Irak: "Ich habe jede Nacht Albträume"

Stand
Autor/in
Susanne Babila

Mehr als 1.100 jesidische Frauen und Mädchen kamen 2015 in einem Sonderkontingent aus dem Nordirak nach Baden-Württemberg. SWR-Redakteurin Susanne Babila hat eine Überlebende getroffen.

Schmale Schultern, blasses Gesicht, das lange schwarze Haar zu einem strengen Knoten gebunden: Mehr von ihrem Äußeren will die junge Frau nicht preisgeben. Sie will anonym bleiben – aus Sicherheitsgründen. Sie stammt wie die jesidische Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad aus dem Dorf Kodscho im Nordirak und hat den Genozid an den Jesiden überlebt. Am 15. August 2014 überfielen Milizen des selbsternannten Islamischen Staates ihr Heimatdorf.

Gefaltete Hände auf einem Tisch. Zum zehnten Mal jährt sich der Genozid an den Jesiden im Nordirak durch den sogenannten Islamischen Staat.
Am 15. August 2014 überfielen Milizen des Islamischen Staats das Dorf Kodscho im Nordirak. Aus Sicherheitsgründen möchte die 35-jährige Überlebende anonym bleiben.

Hunderte Männer und ältere Frauen wurden hingerichtet und verscharrt

Sie seien in eine große Schule gesperrt worden, erzählt die heute 35-Jährige. Die Frauen mussten demnach in das obere Stockwerk, die Männer blieben zunächst im Erdgeschoss und wurden später abgeholt. Hunderte Männer und ältere Frauen wurden in Kodscho hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Sie selbst habe ihren Ehemann, ihren Schwager, ihre Schwiegermutter, mehrere Onkel, Freunde und Nachbarn verloren. Sie war damals 25 Jahre alt und hochschwanger. Mit ihrem dreijährigen Sohn und anderen Frauen und Kindern wurde sie von IS-Männern verschleppt.

Sie holten sich immer wieder junge Frauen, die ihnen gefielen und transportierten sie ab. Wer sich wehrte, wurde geschlagen.

Ihr zweites Kind gebar sie in einem Hospital in der irakischen Stadt Mossul, bewacht von der Ehefrau eines IS-Terroristen. Nach einem Jahr sei ihr mit Hilfe von Schleusern die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen. Kurze Zeit später wurden sie, ihr Baby und ihr kleiner Sohn mit etwa 1.100 besonders schutzbedürftigen Jesidinnen und ihren Kindern nach Baden-Württemberg ausgeflogen.

Baden-Württemberg gewährt mehr als 1.000 Frauen und Kindern Schutz

Initiiert wurde das Sonderkontigent 2015 von der damaligen grün-roten Landesregierung. Sie sei dankbar, sagt die 35-Jährige, dass sie nach Deutschland gebracht worden sei. "Jede Nacht habe ich Albträume, aber in einem Flüchtlingslager im Nordirak wäre unsere Situation katastrophal."

Anfang Juli wurde in der Stuttgarter Staatsgalerie ein Denkmal eingeweiht, das an das Leid der Jesidinnen und Jesiden erinnern soll. Zu Gast war auch Nadia Murad. Sie weihte das Denkmal gemeinsam mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ein. Die Skulptur sei inspiriert von einer Jesidin, die in Deutschland das erste Urteil gegen ein IS-Mitglied erstritt, teilte Murads Organisation "Nadia's Initiative" mit. Ein Jahr lang soll das Denkmal demnach durch Europa reisen.

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Die Hingerichteten trugen Fußballtrikots – von Real Madrid

An ein Zurück in den Irak sei nicht zu denken, sagt Ronya Othmann. Die Autorin mit jesidischen Wurzeln hat vor zwei Jahren die Region im Nordirak bereist. Die Lage dort sei unsicher, unterschiedliche Milizen, auch der IS, seien weiterhin aktiv und Dörfer vermint. In Kodscho sei die Schule zu einem Gedenkort gemacht worden. Im ersten Stock gibt es riesige Glasschaukästen mit Habseligkeiten, die die Erschossenen bei sich hatten.

Dort sieht man Wasserflaschen und ihre Kleidung, Fußballtrikots von Real Madrid und so.

Auf dem großen Platz hinter der Schule, wo früher Hochzeiten stattgefunden hätten, sei jetzt ein Gräberfeld, sagt Othmann.

Jesiden ohne sicheren Aufenthaltsstatus droht die Abschiebung

Die 35-jährige Jesidin, die Schutz in Baden-Württemberg gefunden hat, hat mittlerweile eine Arbeitsstelle gefunden und ihre beiden Kinder gehen zur Schule. Bis heute wird sie in Stuttgart in der psychotherapeutischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft therapeutisch behandelt.

Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe, Orientalist und Psychiotherapeut, steht vor dem Staatsministerium.
Psychologe und Orientalist Jan Ilhan Kizilhan

Obwohl die Frauen und Kinder aufgrund des Sonderkontingents einen sicheren Aufenthaltsstatus haben, machten sie sich Sorgen, sagt der Traumaexperte Jan Ilhan Kizilhan von der Fakultät für Sozialwesen in Villingen-Schwenningen, der einige der Betroffenen betreut. Denn Jesidinnen und Jesiden, die nicht Teil des Programms seien, hätten keinen sicheren Aufenthaltsstatus und seien von Abschiebung bedroht, so Kizilhan. Das gelte für Verwandte und andere Landsleute. Das sorge für Unsicherheit. Viele verstünden das nicht, da der Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesiden inzwischen als Völkermord anerkannt habe, so Kizilhan. 

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