Am Mittwochnachmittag wurde in Stuttgart der Opfer des Völkermords an den Jesidinnen und Jesiden durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) gedacht. Anlässlich des zehnten Jahrestags war die Friedensnobelpreisträgerin und Jesidin Nadia Murad zu Gast. Gemeinsam mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) weihte sie in der Stuttgarter Staatsgalerie ein Denkmal ein, das an das Leid der Jesidinnen und Jesiden erinnern soll.
Die lebensgroße Mutter-Kind-Skulptur soll auf die Notlage der Überlebenden von sexualisierter Gewalt in Konfliktgebieten aufmerksam machen und das Streben der Überlebenden nach Gerechtigkeit und Hoffnung darstellen, heißt es von Murads Organisation "Nadia's Initiative". Die Skulptur sei inspiriert von einer Jesidin, die in Deutschland das erste Urteil gegen ein IS-Mitglied erstritt. Ein Jahr lang soll das Denkmal durch Europa reisen.
Angriff auf Jesiden im Nordirak vor zehn Jahren
Vor zehn Jahren, im August 2014, überfiel der IS die Jesiden im Nordirak. Tausende wurden systematisch ermordet, verschleppt und vergewaltigt. Nadia Murad ist eine der Überlebenden dieses Genozids. Sie erhielt, wie rund 1.100 andere Jesidinnen, per Sonderkontingent Schutz in Baden-Württemberg. Seither macht Murad als UN-Sonderbotschafterin auf die Notlage der Überlebenden aufmerksam und erhielt 2018 für ihr Engagement gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe den Friedensnobelpreis.
"Auch Ihnen hat man viel genommen. Was die IS-Verbrecher Ihnen nicht nehmen konnten, war Ihre Würde, Ihr Mut und Ihre Menschlichkeit", sagte Kretschmann bei der Enthüllung und würdigte Murads Engagement.
Familiennachzug von Jesiden bislang nicht umgesetzt
Die Jesidinnen und Jesiden, die in Baden-Württemberg Schutz gefunden haben, warten seit mehreren Jahren auf den versprochenen Familiennachzug von 18 Ehemännern. Ministerpräsident Kretschmann zeigte sich auf Anfrage des SWR optimistisch, dass die Frage des Familiennachzugs der Jesiden gelöst werden kann: Man befinde sich dazu derzeit in Gesprächen mit dem Migrationsministerium. "Das wird man ja wohl hinbekommen", so Kretschmann wörtlich angesichts der geringen Anzahl von 18 Männern.
Jesiden in BW teilweise von Abschiebung bedroht
Gleichzeitig beklagt der Verein Ezidische Sonne Stuttgart e.V., dass Jesidinnen und Jesiden, die den Völkermord im Irak überlebt haben, aktuell in Baden-Württemberg von Abschiebung bedroht seien. Andere Bundesländer geben an, keine Jesidinnen und Jesiden abzuschieben.
Das baden-württembergische Ministerium für Justiz und Migration sagt auf SWR-Anfrage, dass es bei Abschiebungen nicht auf die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit ankomme, sondern ausschließlich auf die Staatsangehörigkeit. Daher könne man auch keine Angaben darüber machen, ob und wie viele Jesidinnen und Jesiden aus Baden-Württemberg abgeschoben werden sollen oder bereits abgeschoben wurden.
Glauben „Zurück ins Leben“ – eine jesidische Familie in Baden-Württemberg
Familie Alsilo überlebte den Genozid an Jesiden im Nordirak und rettete sich mit Hilfe der baden-württembergischen Regierung in den Südwesten. Hier fasste sie neuen Lebensmut.
Kein weiteres Sonderkontingent für Jesiden
Ein anderes Versprechen wird die Landesregierung wohl nicht einhalten können: Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag hatte sie ein weiteres Sonderkontingent für jesidische Flüchtlinge angekündigt - für jesidische Frauen und deren Kinder, die die Frauen während oder nach der IS-Gefangenschaft geboren haben. Die irakische Regierung betrachtet diese Kinder aber als muslimisch, weil ihre Väter, die Terrorkämpfer des IS, Muslime sind oder waren. Die Kinder sollen deshalb nicht mit ihren Müttern in den jesidischen Gemeinden aufwachsen, sondern in Waisenhäusern im Irak.
Die Landesregierung investiere nun nach eigenen Angaben in Projekte vor Ort, die Jesidinnen und Jesiden im Irak eine Perspektive geben sollen. Unter anderem geht es um eine bessere psychologische Betreuung der Überlebenden des IS-Terrors und um die schulische Förderung von Kindern. Seit 2016 hat die Landesregierung für solche Projekte 5,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.