Zum Weltfrauentag am 8. März

Mit Heimweh und Hoffnung: Als die Gastarbeiterinnen nach BW kamen

Stand
Autor/in
Susanne Babila
Onlinefassung
Samantha Ngako
Redakteurin Samantha Ngako im Portrait

Man erinnert kaum an sie: Die sogenannten Gastarbeiterinnen, die in den 60er-Jahren aus Italien, Spanien, aus Griechenland, Portugal oder der Türkei nach Deutschland kamen.

In Zeiten des Wirtschaftswunders rief Deutschland nach Arbeitskräften aus dem Ausland, die so dringend benötigt wurden. Jede dritte war eine Frau. Eine von ihnen ist Eleni Tsertsene.

Die Begegnung mit Eleni Tsertsene zum Nachhören:

Gastarbeiterin in Kornwestheim: "Die ersten Jahre waren sehr schwer"

Heute lebt die 86-jährige Griechin mit ihrer Katze in einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung in Kornwestheim (Kreis Ludwigsburg). Sie war 22 Jahre alt, als sie aus einem Dorf in Nordgriechenland nach Kornwestheim kam, um in einer Schuhfabrik, den Salamander-Werken, zu arbeiten. Dort arbeitete ihr Ehemann bereits seit einem Jahr. "Die ersten Jahre waren sehr schwer", erzählt sie, "ich musste meine Mutter, meinen Vater, meine Verwandten, einfach alles, zurücklassen". Ihren Ehemann Fotios hatte sie einen Monat zuvor geheiratet und kannte ihn kaum.

Ich war oft traurig und habe viel geweint.

Eine Frau sitzt auf einem Sofa
Eleni Tsertsene kam im Alter von 22 Jahren als Gastarbeiterin aus Nordgriechenland nach Kornwestheim.

Die fremde Kultur, das Heimweh und die deutsche Sprache machten ihr anfangs große Schwierigkeiten. Tsertsene spricht bis heute nur gebrochen deutsch. Sprach- oder Integrationskurse wurden damals nicht angeboten und sie lebte mit ihrem Ehemann in einer Wohnbaracke. Dort teilten sie sich ein kleines Zimmer. Küche und Schlafzimmer wurden durch einen Vorhang getrennt. Auf den Wohnfluren gab es Gemeinschaftstoiletten und ein Bad. "Wir hatten in unserer kleinen Küche einen Topf und zwei Teller, ein bisschen Besteck und das wars", erinnert sich die 86-Jährige.

Familie mit Geburtstagstorte an einem Tisch
Familie Tsertsene blieb in Baden-Württemberg.

Bei Gastarbeiterzuwanderung denken viele nur an Männer                                                    

Bis heute dominiert das Bild einer männlich geprägten Gastarbeiterzuwanderung, doch jede dritte angeworbene Arbeitskraft war eine Frau. Sie wurden in den 60er-Jahren oft gezielt von deutschen Anwerbebüros in Mailand, Neapel, Thessaloniki oder Istanbul angeworben. Bis 1973, dem Jahr des Anwerbestopps, wurden rund 706.000 Arbeitsmigrantinnen für Deutschland angeworben. Sie arbeiteten in der Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie, aber auch in der Elektro-, Eisen- und Metallbranche. 

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Sie wurden als un- oder angelernte Arbeitskräfte eingestellt und in sogenannte Leichtlohngruppen eingestuft. Sie verdienten also bis zu 40 Prozent weniger als Männer, selbst wenn sie dieselbe Arbeit leisteten, kritisiert Silva Burrini. Schon in den 60er-Jahren arbeitete sie als Sozialarbeiterin bei der Caritas und betreute lange Zeit im Ludwigshafener Stadtteil Hemshof vor allem Gastarbeiterinnen aus Italien. "Sie kamen aus Sizilien, aus Sardinien, aus Kalabrien, Apulien, Kampanien. Leute, die mehr oder weniger in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Sie waren gewohnt, den ganzen Tag draußen zu sein, an der frischen Luft. Und dann in eine Fabrik, acht Stunden am Tag. Wenn ich an die BASF denke, zwölf Stunden am Tag. Aber danach hat kein Mensch gefragt."

Protrait einer älteren Dame
Silva Burrini arbeitete als Sozialarbeiterin bei der Caritas und betreute vor allem Gastarbeiterinnen aus Italien in Ludwigshafen.

Mütter mussten ihre Kinder in der Heimat zurücklassen

Viele Gastarbeiterinnen, die allein nach Deutschland kamen, sehnten sich nach ihren Ehemännern, ihren Eltern, ihren Freundinnen und Freunden. Mütter mussten ihre Kinder in der Heimat zurücklassen, denn es gab damals keine Kindertageseinrichtungen für berufstätige Mütter, erklärt Burrini. "Wenn die Frauen hier arbeiten wollten, sind die Kinder zunächst in Italien geblieben, bei den Großeltern, bei Onkel und Tanten oder bei Nachbarn", erzählt die 83-Jährige.

Ja und dann hatten sie fürchterlich Heimweh nach ihren Kindern und die Kinder nach ihren Eltern.

Damals gab es noch keine Handys, um sich kurz per WhatsApp oder Facetime auch über Distanzen hinweg nahe zu sein. An Telefonzellen bildeten sich jeden Sonntag lange Schlangen, um ein kurzes Gespräch für fünf D-Mark mit den Liebsten zu führen - oder man schrieb Briefe, die oft viele Tage später ankamen.  

Pflegerinnen aus Osteuropa sehen Kinder aus der Ferne aufwachsen

Heute sind es die Pflegerinnen aus Osteuropa, die ihre Kinder nur aus der Ferne aufwachsen sehen, weil sie in Deutschland das dringend benötigte Geld verdienen. Damals waren es die Arbeiterinnen aus Griechenland, Italien, Spanien, aus Portugal oder der Türkei. Die Frauen nahmen alles auf sich, um ihre Familien in der Heimat finanziell zu unterstützen. Ihre größte Angst war, ihre Arbeit zu verlieren. Nicht wenige Arbeitgeber drohten mit Kündigung, wenn sie schwanger waren. 

"Ich habe Fälle gehabt, wo Frauen versucht haben abzutreiben und gestorben sind", berichtet Burrini. Sie erzählt von vielen Schicksalen, von Enttäuschungen und Einsamkeit, aber auch von gemeinsamen Festen und Zusammenhalt. Sie blättert in alten Fotoalben und zeigt Schwarz-weiß-Bilder, aufgenommen in einem Gemeindesaal in Freiburg. Auf einem Foto sitzt Burrini, damals 26 Jahre alt, zwischen Kindern und Erwachsenen und verteilt Geschenke. Nicht alle Familien konnten es sich leisten, an Weihnachten in die Heimat zu fahren, erinnert sich Burrini. Sie selbst war als Kindermädchen nach Süddeutschland gekommen, bevor sie bei der Caritas zunächst ehrenamtlich, später hauptberuflich arbeitete.

schwarz-weiss-Aufnahme einer Frau auf einer Bühne mit Familien
Burrini organisierte Veranstaltungen für Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und ihre Kinder.

Anwerbeländer entsandten auch muttersprachliche Priester

Auch entsandten die Anwerbeländer muttersprachliche Priester nach Deutschland. Sie waren für die Seelsorge und das Spenden der Sakramente zuständig, "Die Taufe, die Kommunion, die Firmung, da waren so viele Kinder", erinnert sich die gläubige Christin Burrini voller Freude. "Das waren Feste, sage ich ihnen - und volle Kirchen. Denn Kirche ist auch Heimat. Da finde ich etwas, was ich zuhause auch hatte." 

Die Caritas betreute vor allem Menschen, die aus katholisch geprägten Regionen kamen, die Arbeiterwohlfahrt kümmerte sich um Muslime und die Diakonie war für die evangelische und die christlich-orthodoxen Kirchen zuständig. Die Wohlfahrtsverbände etablierten nicht nur Beratungsstellen, sondern unterstützten auch Integrationsmaßnahmen. Die Kirchen waren sehr aktiv und übernahmen von Anfang an eine Anwaltsfunktion für die ausländischen Arbeitskräfte, erklärt der Migrationsexperte Karl-Heinz Meier-Braun aus Ostfildern. "Besonders die Frauen hatten ja kein Wahlrecht, kein Mitbestimmungsrecht, konnten sich nicht wehren."

Restriktive "Ausländererlasse" hätten beispielsweise den Familiennachzug fast unmöglich gemacht. "Hier sind die Bischöfe immer wieder zu den Ministern marschiert und haben mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gefordert, das zu ändern", sagt Braun, "sie haben Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse dringend eingefordert und ganz früh schon gesagt, Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden."

Ältere Aufnahme einer Frau mit zwei Kindern
Gastarbeiterin Eleni Tsertsene mit ihren Kindern in Kornwestheim.

Zerrissenheit zwischen alter Heimat und Deutschland

Viele fühlten sich fremd und träumten von einer Rückkehr. Gastarbeiter-Familien litten unter der Zerrissenheit zwischen alter Heimat und Deutschland. Auch Eleni Tsertsene träumte jahrzehntelang davon, wieder nach Nordgriechenland, in ihre alte Heimat, zurückkehren zu können. Vor vier Jahren starb ihr Ehemann, er liegt in Kornwestheim begraben. Der Kinder wegen gingen sie nie mehr zurück. "Ich bleibe hier. Ich sterbe hier, bei meinem Mann. Schluss", sagt Tsertsene.

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