Fotoautomatenporträts, ca. 1935

Neue Foto-Ausstellung

Wer wir sind: Porträts in der Walther Collection Neu-Ulm

Stand
Autor/in
Anita Schlesak
Anita Schlesak

Schnappschüsse und Selfies sind keine neue Erfindung. Schon zu Beginn der Fotografie vor mehr als 150 Jahren gab es viele Porträts. Das zeigt die Walther Collection in Neu-Ulm.

Die neue Ausstellung der privaten Kunstsammlung "Walther Collection" widmet sich ab Sonntag ausschließlich Porträts in der Alltagsfotografie, unter dem Titel: "Wer wir sind". Eine Zeitreise durch 150 Jahre Geschichte der Porträt-Fotografie.

Amerikanische Fahndungsfotos, 1908–1921
Amerikanische Fahndungsfotos, 1908–1921, Fotograf*innen unbekannt.

Der Blickfang  im weißen Kubus der Walther Collection im ländlichen Neu-Ulm Burlafingen ist eine monumentale Collage aus 2.700 verwaschenen Fotos. Sie wurden 2011 nach dem Tsunami in Japan aus den Fluten gerettet und getrocknet. Daneben hängen Serien von Fahndungs- und Passfotos aus Automaten, Gebrauchsfotografie, die bürokratisch sortiert, normiert und klassifiziert. Daneben beeindrucken Panorama-Gruppenbilder mit Dutzenden von US-amerikanischen Minenarbeitern in ihrer Arbeitsmontur.

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Ich finde diese Alltagsfotografie spannend, weil die so viele Überraschungen bietet, weil vieles nicht inszeniert ist und noch viel mehr inszeniert ist. Und es macht einfach wahnsinnig Spaß, diese Bilder anzugucken.

Weniger nüchtern, eher persönlich und intim wird es im schwarzen Haus der Walther Collection mit Fotoalben. Diese "Archive des täglichen Lebens“  dokumentieren - wie heute auch - die immer gleichen Ereignisse: Hochzeiten, Familienfeiern, Urlaubsreisen. "Das Fotoalbum ist kein unschuldiges Medium", betont Kuratorin Daniela Baumann, eben weil die nicht schönen Dinge des Lebens fehlen.

So besitzt die Kunststiftung des Privatsammlers Artur Walther auch Familienalben aus Deutschland aus den 1930er und -40er Jahren. "Man sieht darin aber eigentlich nie Uniformen, man sieht keine zerbombten Städte", bemerkt Baumann. Dabei war das damals die Realität der meisten Deutschen.

Silvester-Party-Album, 1952–1958
Silvester-Party-Album, 1952–1958, Album unbekannter Herkunft.

Die Fotografie war von Anfang an etwas, was normiert und kontrolliert hat, aber natürlich auch ein Medium der Freiheit.

Überraschend freizügige Partyfotos zeigt die Ausstellung über Alltagsfotografie aus den angeblich so konservativen, muffigen 1950er Jahren im deutschen Wirtschaftswunderland. Ein Freundeskreis dokumentierte über Jahre seine alkoholgeschwängerten Silvesterpartys, die an Orgien erinnern.

Adolfo Patiño, aus der Serie La Tierra Prohibida de Terry Holiday, 1979.
Adolfo Patiño, aus der Serie La Tierra Prohibida de Terry Holiday, 1979.

Erotische Fotos aus dem queeren New Yorker Milieu in Neu-Ulm

Brisant ist auch die Alltagsfotografie zur Darstellung von Gender, die die Walther Collection in ihrem grauen Haus präsentiert. Soft-erotische bis pornografische Porträts aus seinerzeit verbotenen Milieus: Transfrauen in aufreizenden Posen aus der New Yorker Szene der 1970er Jahre oder schwule Männer, die fast nackt mit ihren durchtrainierten Muskeln spielen. Witziger Einfall im Badezimmer des leergeräumten Einfamilienhauses auf dem Neu-Ulmer Museumscampus: ein Duschvorhang mit einem solchen Pin-Up-Boy in schwarz-weiß.

Bob Mizer, Athletic Model Guild shower portraits, ca. 1955–1990
Bob Mizer, Athletic Model Guild shower portraits, ca. 1955–1990.

Eine Zeitreise ins koloniale Afrika bietet auf dem Neu-Ulmer Museums-Campus das mit Efeu bewachsene grüne Haus. Die typischen "Cartes de Visite" aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und Postkarten aus dem 20. Jahrhundert bilden afrikanische Klischees ab: von Schwarzen Menschen im Leopardenfell vor ihren Hütten, in denen sie damals oft schon nicht mehr lebten. Exotische Inszenierungen für den europäischen Markt.

Im Kontrast dazu das "Black Photo Album" des südafrikanischen Fotokünstlers Santu Mofokeng. In seiner Diaschau von 1997 nimmt er historische Studioporträts von 1920 kritisch in den Blick. Sie zeigt viktorianisch gekleidete Schwarze Südafrikanerinnen und Afrikaner in ganz herrschaftlich selbstbewussten Posen im Fotostudio. Zwischen den Bildern fragt Mofokeng in eingeblendeten Texten immer wieder: "Was sehen wir hier? Ist das ein Zeugnis mentaler Kolonisation? Oder sind es wirklich selbstbestimmte Menschen?" Hochaktuelle Fragen zur afrikanischen Identität und Dekolonisierung.

S. J. Moodley, Porträts aus Kitty’s Studio, ca. 1975
S. J. Moodley, Porträts aus Kitty’s Studio, ca. 1975.

Ob es um queere Fotografie geht, um afrikanische Fotografie oder auch um afroamerikanische Fotografie - immer geht es hier um Minderheiten, die seinerzeit keine Lobby und keine Repräsentation in der Öffentlichkeit hatten. "Wenn es diese privaten Fotografien nicht gäbe", erläutert Daniela Baumann, "wüssten wir gar nicht, dass es diese Gruppen damals schon gab."

Gruppen, die sich im Untergrund oder abseits des öffentlichen Blicks organisierten und die Fotografie offensichtlich auch als Freiraum für Selbstdarstellung eroberten und so gesellschaftliche Normen sprengten.  Denn - das zeigt die Walther Collection mit ihrer facettenreichen Ausstellung eindrücklich - Fotografie konnte schon immer beides: Menschen normiert darstellen und von Normen befreien.

Chris West, Baltimore Drag Album, ca. 1970
Chris West, Baltimore Drag Album, ca. 1970.

"Wer wir sind" - die Ausstellung über das Porträt in der Alltagsfotografie wird am Sonntag um 11 Uhr eröffnet. In der Walther Collection in Neu-Ulm Burlafingen. Zu sehen immer von Donnerstag bis Sonntag von 14 bis 17 Uhr bis Ende März 2025.

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