In Freudenberg in Nordrhein-Westfalen sollen zwei Mädchen die zwölfjährige Luise mit mehreren Messerstichen umgebracht haben. Der Fall löst Bestürzung aus. Nun folgen Forderungen, die Strafmündigkeit ab 14 Jahren zu senken, denn die beiden mutmaßlichen Täterinnen können gerichtlich noch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert hält diese Forderung im Interview mit dem SWR für übertrieben.
SWR Aktuell: Professor Fegert, ab 14 Jahren ist man strafmündig. Ist das aus Ihrer Sicht noch haltbar?
Jörg Fegert: Ja, ich denke schon. Vor allem sind solche Debatten aus dem Anlass von einem Fall eigentlich völlig abwegig. Wir haben das immer mal wieder in der Strafgesetzgebung, dass man Dinge ändert, weil irgendein Fall die Bevölkerung aufregt. Aber vernünftige politische Diskussionen laufen anders. Und man muss die Folgen bedenken. Jetzt gibt es verschiedene Leute, die das europaweit vergleichen. Meine Frau ist in der Schweiz tätig, dort sind zum Beispiel Kinder ab zehn Jahren strafmündig.
Aber es gibt keine Gefängnisstrafen. Die Kinder kommen stattdessen in Kinderheime und erhalten dort sehr viel pädagogische Unterstützung. Mit denen wird auch "deliktorientiert" gearbeitet. Wenn Sie mal in unsere Jugendstrafanstalten schauen, dann kann ich mir die mutmaßlichen Täterinnen, ohne den Fall und die Mädchen zu kennen, überhaupt nicht dort vorstellen. Die würden da einfach untergehen.
SWR Aktuell: Ist denn dieses Alter von 14 Jahren symbolisch gewählt? Denn jedes Kind entwickelt sich von der Pubertät und von der Reife her anders.
Fegert: Es geht darum, ab welchem Alter man durchschnittlich denkt, dass Kinder die Tragweite auch komplexer Taten überschauen können und auch die Straffolgen. Natürlich: Jedes Kind im Pubertätsalter weiß, dass man nicht töten darf, das Normverständnis dafür ist da. Aber welche Folgen das nach sich zieht, ist wahrscheinlich noch nicht da. Und wenn Sie jetzt an komplexe Sexualstraftaten denken, da wissen viele Jugendliche nicht, was sie machen. Wenn sie beispielsweise ihre fast gleichaltrige Freundin fotografieren. Deshalb ist es gerade wegen der neuen Entwicklungen im Medienbereich sehr gut, dass wir das Strafmündigkeitsalter bei 14 Jahren haben. Sonst würden wir noch viel mehr unsinnige Fälle ermitteln müssen, wegen Verbreitung von sogenannter Kinderpornografie bei Jugendlichen, die einfach aus jugendlicher Neugier solche Bilder machen.
SWR Aktuell: Es gibt unterhalb dieser Grenze praktisch keine Bestrafungs- oder Sanktionierungsmöglichkeiten. Was ist aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Fegert: Das ganze Jugendstrafrecht ist nicht primär ein Sanktionsrecht, sondern hat einen erzieherischen Charakter. Sinnvoll sind Hilfen zur Erziehung für diese Kinder. Die (mutmaßlichen Täterinnen, Anm. der Redaktion) sind, wie man hört, in einer Jugendhilfeeinrichtung. Ich denke, da könnten wir auch noch gezielter und besser werden, gerade bei der therapeutischen Unterstützung. Eine andere Debatte betrifft Jugendliche, die kleine Diebstähle, Autoeinbrüche und so weiter machen. Die oft ab 12, 13 Jahren schon viele Delikte auf dem Buckel haben, bis sie dann strafmündig werden. Hier brauchen wir auch erzieherische Maßnahmen, dass man die Kinder teilweise in einem geschlossenen Setting mit Einwilligung eines Familiengerichts einsperren kann, wenn man sonst der Situation nicht Herr wird.
SWR Aktuell: Es geht ja darum, frühzeitig kriminelle Karrieren zu verhindern.
Fegert: Genau, deshalb sage ich das ja. Nur, man verhindert sie nicht durch Jugendstrafanstalten. Gehen Sie mal durch Jugendstrafanstalten und schauen Sie sich die Milieus an und auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die dort untergebracht sind. Das ist kein Ort für Kinder. Das heißt, wenn man über Strafmündigkeitsalter nachdenken wollte, müsste man über ein ganz anderes Unterstützungssystem nachdenken.